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Geschichten in Geschichten in Scott Lynchs Gentelman-Bastard-Serie

Scott Lynch

Geschichten in Geschichten. Dies ist eine der ältesten Strukturen des Geschichtenerzählens, die bis ins alte Ägypten reichen. Allein der westliche Kanon hat – beginnend bei den Canterbury-Erzählungen über Hamlet bis zu Italo Calvons Unsichtbaren Städten – eine Fülle namhafter Werke hervorgebracht, die dem Reiz, Narrative ineinander zu schachteln, nicht widerstehen konnten. Autoren spekulativer Literatur wie Margarete Atwood oder Neil Gaiman sind ebenfalls in der Lage, diese Disziplin anzuwenden und dadurch mit einer wunderbaren Wirkung zu versehen.

Scott Lynch mag noch nicht ganz in dieser Elitegruppe mitwirken, aber es mangelt ihm weder an Talent noch an Ambitionen. Seine Gentleman Bastard-Serie (Die Lügen des Locke Lamora; 2006, Sturm über roten Wassern; 2007, Die Republik der Diebe; 2013 – und vier weitere geplanten Romane) besteht aus umfangreichen Büchern. In ihnen leben ein Gauner namens Locke Lamora und sein bester Freund, der Trickbetrüger Jean Tannen, in der flirrenden Metropole Camorr, die stark an das mittelalterliche Venedig erinnert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich dieses Werk nicht von anderer zeitgenössischer Epic Fantasy, die George R. R. Martin oder Joe Abercrombie schreiben. Aber Lynch bringt in Die Republik der Diebe eine weitere Dimension in sein witziges, freches, pikareskes Epos ein: eben jene Geschichte in einer Geschichte, die mit Eleganz und Komplexität vorgetragen wird.

Es mag etwas seltsam erscheinen, über einen dritten Band vor den beiden ersten zu sprechen, aber es ergibt Sinn, wenn es um die Gentleman Bastard-Serie geht. Lynch springt chronologisch gesehen in jedem Buch viel herum und berichtet uns von der Zeit, als Locke und Jean als Jungen unter dem Meisterdieb Vater Chains studierten, bis hin zur langsamen Aufklärung des alten Geheimnisses, welches das Herzstück von Camorrs fremdartiger Architektur ist. In der Republik der Diebe gibt es viele parallele Storylines, aber es gibt auch ein Theaterstück im Roman: Caellius Lucarnos Theaterklassiker, auch Die Republik der Diebe genannt, ist hier eines von vierzig Fragmenten, ein Drama, das von einem untergegangenen Reich geborgen wurde, ähnlich einem Werk griechischer Dramatiker, das in die reale Renaissance einfloss.

Die Republik der Diebe ist nicht das einzige Lucarno-Werk, das in der Gentleman Bastard-Serie erwähnt wird. Zeilen aus dem Stück „Die Hochzeit des Assassinen“ werden in Sturm über roten Wassern zitiert; Jean offenbart sich als begeisterter Fan der gesammelten Werke des Mannes und ist bereit, leidenschaftlich und spontan über Lucarnos rechtmäßigen Platz im antiken Pantheon zu sprechen. In gewisser Weise ist Jean ein Lucarno-Geek – so wie viele Fantasy-Leser in den letzten zehn Jahren zu Lynch-Geeks geworden sind.

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Ja, Lynch schreibt Geschichten in Geschichten, faltet Rückblenden in Rückblenden und kreiert Geheimnisse in Geheimnissen. Aber er kreiert auch eine abgedrehte Buddy-Serie und einen höllischen Heist-Thriller. Abgesehen von seinem komplizierten Rahmen, beginnt die Gentleman Bastard-Serie mit der warmen, kämpferischen, brillant geschriebenen und manchmal geradezu herzzerreißenden Beziehung zwischen Locke und Jean, zwei Jugendfreunden, die zu zwei sehr unterschiedlichen Männern herangewachsen sind, die jedoch durch Kameradschaft und die Befriedigung über einen gelungenen Betrug, tief miteinander verbunden sind. In Die Lügen des Locke Lamora geraten sie in einen Machtkampf innerhalb des kriminellen Untergrunds von Camorr, der sie auch hervorgebracht hat; in Sturm über roten Wassern fliehen sie aus Camorr, um ihr Glück im fernen Land Tal Verrar zu suchen, wo Lynch sein Ocean‘s Eleven mit peitschenknallender Piraterie vermischt – und wie durch ein Wunder greift alles ineinander.

Lynch ist nicht der einzige aktuelle Fantasy-Autor, der Geschichten in Geschichten erzählt – das Beispiel, das einem sofort in den Sinn kommt, ist Patrick Rothfuss‘ exquisit gerahmte Kingkiller Chronicle-Serie. Lynch stellt jedoch noch größere Fragen über die Natur der Wahrheit. Was ist eigentlich wahr? Sollte die Wahrhaftigkeit nicht eher auf die überzeugendste Version der Ereignisse als auf die langweilige alte Realität ausgerichtet sein? Was ist mit der Geschichte, sowohl der kulturellen als auch der persönlichen? Ist das nur eine andere Art, sich selbst zu täuschen? Um unsere Identitäten zu fälschen? Wenn die Summe der Zivilisation – und von uns selbst – einfach ein Rätsel von Geschichten in Geschichten ist, wo bleiben wir dann? Es gibt viel zu tun in einer Fantasy-Serie, gerade in einer so breitgefächerten und tiefgründigen wie dieser. Aber wenn Lynch uns bisher etwas gezeigt hat, dann dass Locke und Jean – so bescheiden die Lügner auch sein mögen – der Aufgabe mehr als gewachsen sind.


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