Ricardo Piglia: Munk
Ricardo Piglia war ein fleißiger Leser, der gegen das Lesen als Freizeitaktivität eingestellt war. In seinem Buch „Der letzte Leser“ feiert er nicht die Geschwindigkeit des Lesens, die sogar in manchen Schulen für gut befunden wird, sondern die Langsamkeit. Im Epilog zitiert er eine Zeile Wittgensteins: „In der Philosophie ist der Gewinner des Rennens derjenige, der am langsamsten laufen kann. Oder: derjenige, der zuletzt dort ankommt.“ Piglia nannte scharfsichtige Leser „Privatdetektive“, zu Ehren seiner Besessenheit von Detektivgeschichten, dem Stil also, den er für die meisten seiner Werke selbst übernahm. Er berief sich oft auf ein Foto von Borges, der mit dreißig Jahren erblindete. Als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek hielt er auf diesem Foto ein Buch ein paar Zentimeter vor seine Nase und kommentierte das Bild so: „Ich bin jetzt ein Leser von Seiten, die meine Augen nicht sehen können.“ Piglia schreibt: „Ein Leser ist auch einer, der die Dinge falsch liest, sie verzerrt, und irritierend wahrnimmt.“ Für ihn war es entscheidend, idiosynkratisch gegen den Strom zu lesen.
Wie jeder ehrgeizige Schriftsteller, der in den siebziger und achtziger Jahren schrieb, verstand er die besondere Last und Gabe, im Schatten von Jorge Luis Borges zu arbeiten – dem Meister, der, wie ein argentinischer Kritiker sagte, „größer als die argentinische Literatur“ ist. In einer vier Jahrzehnte andauernden Karriere, in der er zu einer der markantesten literarischen Stimmen Lateinamerikas wurde, schrieb er oft über vertriebene Einzelgänger, gescheiterte Genies, überzeugende Paranoiker und Verschwörer.
Der Name seines Alter Egos Emilio Renzi, den er in einer Reihe seiner Bücher auftreten lässt, ist nicht beliebig gewählt. Piglias Geburtsname nämlich lautete Ricardo Emilio Piglia Renzi. Noch sein erstes Buch erschien unter diesem Namen. Und natürlich taucht er auch in diesem hier auf: Munk.
„Sie wissen, dass sich dort draußen kein Mensch für Literatur interessiert und sie die letzten Verbliebenen Hüter einer glorreichen, in die Krise geratenen Tradition sind.“
Man liest Bücher, um etwas über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Ein Buch, in dem das nicht zur Disposition steht, taugt nicht wirklich viel. Nun ist es die Lateinamerikanische Literatur ganz allgemein, in der man vor allem etwas über Zerrissenheit lernen kann. Die Europäer – allen voran die Französische und Englische Literatur – waren dem südlichen Kontinent literarischer Kulturbringer. Heute, da es in Europa keine nennenswerte Kultur mehr gibt, wendet man sich – wie auch hierzulande – Amerika zu. Die beiden Amerikas sind von oben bis unten mit Zerrissenheit und Kunst voll, Europa ist nur noch ein Relikt der Vergangenheit. Das Interessante ist, dass die Hispanistik zur Romanistik gehört, wie das Französische auch. Borges bevorzugte die Englische Literatur als Lesequelle, und die USA sind hauptsächlich ein Literaturvolk geworden, weil sich Autoren wie Poe, Mark Twain und Whitman emanzipieren wollten und mussten. Von Poe stammt der Symbolismus, der in Frankreich vor dem Surrealismus Großes bewirkte, und der literarische Surrealismus wiederum fand in Lateinamerika seine Blüte. Das alles hat erst einmal gar nichts mit Ricardo Piglias Roman zu tun, der im Original „El camino de Ida“, also etwa: Idas Weg lautet.
Es war sein letzter Roman, Piglia starb im Januar 2017 in Buenos Aires, nachdem er über zwanzig Jahre in den USA gelebt hatte. Es bleibt nicht aus, das dieser Aufenthalt ebenso abfärbte wie bei den früheren Autoren, die bevorzugt in Frankreich lebten (bei Borges waren es die Schweiz und Spanien). In der Post-Borges-Ära war Piglia der berühmteste Argentinier. In MUNK erfahren wir viel über die Literatur selbst, was nicht verwundert, denn der Autor lehrte, wie sein Protagonist auch, als Professor Literatur. Wie schon Borges, Cortázar und Roberto Bolaño liebte auch Piglia seinen literarischen Fundus und schrieb ihn hier Emilio Renzi auf den Leib, der von Buenos Aires nach New York geht, um an der elitären Taylor Universität ein Seminar über W. H. Hudson zu leiten, einem englischen Schriftsteller, den seinerzeit Joseph Conrad sehr bewundert hatte, und der einige Zeit in Argentinien lebte. Eingeladen worden war Renzi von der schönen und hochintelligenten Professorin Ida Brown.
Renzi ist gerade geschieden und denkt, dass die Distanz und der Aufenthalt an einem seltsamen Ort, an dem ihn kaum jemand kennt, ihm helfen kann, sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Aber sein Plan fällt sofort auseinander: In seiner ersten Nacht wird er durch einen seltsamen Anruf verunsichert. Dann, angetrieben von einem Anfall von Leidenschaft, beginnt er mit Ida eine heimliche, unvergessliche Romanze. Kleine, verdächtige Vorfälle und seltsame Missverständnisse gipfeln mit dem tragischen Tod der Professorin durch einen unerklärlichen Autounfall, der ein beunruhigendes Detail offenbart: Idas Hand ist verbrannt und das scheint sie mit einer Reihe Leuten der akademischen Welt gemeinsam zu haben.
Das FBI ermittelt und zunächst wird der Fall zu den Akten gelegt, weil er wie ein Unfall aussieht. War es wirklich ein Unfall? Das FBI vermutet, dass sie durchaus auch eine Komplizin des Briefbombers gewesen sein könnte. Und hier kommt eigentlich der Titel ins Spiel (sic!), denn „Ida“ bedeutet „Weg ohne Wiederkehr“. Piglia lässt Renzi hier in den Keller der Paranoia hinab, denn freilich ist er zunächst einmal verdächtig und lernt die Gemeinsamkeiten der Argentinischen Junta und der Amerikanischen Ermittler kennen. Viele der herausragenden Lateinamerikanischen Bücher bieten diesen doppelten Boden einer ungewissen Realität. Damit spiele ich natürlich auf den Magischen Realismus an. Tatsächlich aber ist das Kafkaeske allgegenwärtig. Hier in Form des Dekans D’Amato, dem ausgesprochenen Melville-Kenner, der sich einen lebenden weißen Hai im Keller hält. Oder die Vorstellung, dass Finnegans Wake gerne von Philosophen und Mathematikern gelesen wird. Mathematiker seien affektierte, gelangweilte Menschen, deren Kreativität meist vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr versiegt. Die meiste Zeit vertreiben sie sich mit der Lektüre von Joyce.
Der Unabomber
Es ist etwas merkwürdig, dass die teuerste und aufwendigste Verbrecherjagd in der Geschichte der USA heute etwas in Vergessenheit geraten ist. Gemeint ist der Fall Ted Kaczynski, einem der genialsten Mathematiker seiner Zeit. Verwiesen sei hier auf die Dokumentation von Lutz Dammbeck.
Das Besondere an Piglias Buch (bei ihm heißt der Bomber „Munk“) ist jedoch nicht das Umweben dieser Geschichte, sondern die explosive Sprengkraft der Literatur, die wohl nur deshalb unterschätzt wird, weil sie die meisten Menschen entweder als Mainstream-Unterhaltung oder als intellektuelles Konstrukt vergangener Tage interpretieren, wohl gerade, weil kaum mehr ersichtlich ist, dass Sprache das einzige ist, was uns wirklich vom Tier unterscheidet. Im Guten wie im Schlechten, der Mensch und seine Umwelt sind nur das Konstrukt seiner Sprache; wo seine Sprache endet, endet sein Horizont.

Das Phantastikon entwickelte sich im Laufe der Jahre immer mehr in Richtung Spannungsliteratur. Buchbesprechungen, interessante Geschichten und Hintergründe zu den Genres Krimi und Thriller im Magazin und im Podcast sind das bevorzugte Format. Es gibt im deutschen Sprachraum nichts Vergleichbares.