Knoke

Michael Knoke: Der kataleptische Traum (Goblin Press)

Es gibt wenige moderne Werke, denen man im Untergrund das Zeug zum Klassiker unterstellen kann. Das hat noch nicht einmal etwas mit der Qualität der Geschichte zu tun, sondern vielmehr mit einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Freilich ist das Werk des viel zu früh von uns gegangenen Michael Knoke nicht gerade in aller Munde, was uns und mich aber nicht davon entbindet, darauf hinzuweisen, dass hier ein außergewöhnlicher Autor die Fähigkeit besaß, eine bizarre und beklemmende Atmosphäre zu erschaffen, wie sie heute kaum mehr irgendwo anzutreffen ist. Das allein wäre noch nicht „klassisch“ zu nennen. Michael Knoke bedient sich hier eine detailreichen Sprache, die nicht künstlich antiquiert zu sein versucht, aber auch nichts von diesem platten Stil, den heute viele schreiben und für modern halten, erkennen lässt.

„Unser Leben ist der Traum eines anderen, und wir müssen einen Weg finden, diesen Traum zu beeinflussen, dann können wir auch die Fäden unserer eigenen Schicksale ziehen.“

Inmitten eines dichten, dunklen Waldes am Rande eines Dorfes ohne Namen, dessen Bewohner seit Jahrhunderten degeneriert sind, lebt die Familie Duval in einer düsteren Villa, deren Erbauer ein Sadist und Ungeheuer gewesen sein soll. Das Wechselspiel der Familie Duvall mit den entstellten Bewohnern, die nicht nur durch ihre degenerierte Lebensweise so wurden, wie sie sind, sondern auch durch Schwarze Magie, die ihr Erbgut verändert hat, ist einer der folgenreichen Eckpfeiler der Erzählung. Der zweite ist ein bizarres Wesen – halb Mann, halb Frau – das in einem schwarzen Turm, berauscht vom Sud des Fliegenpilzes, unablässig das Schicksal anderer erträumt.

Der dritte Strang betrifft die Erbkrankheit der Duvals, die Katalepsie. Der Erzähler schildert sein Leben und seine Liebe zu seiner Zwillingsschwester Sophie  in der dunklen, faulenden Welt des Waldes. Die Geschwister sind in dieser beklemmenden und morbiden Atmosphäre jedoch glücklich. Wäre da nicht Sophies Erkrankung. Ihre kataleptischen Phasen dauern nämlich immer länger an. Knoke beschreibt die düstere Villa in diesem immerdunklen Wald in allen beklemmenden Einzelheiten. Das erinnert in seiner schaurigen Atmosphäre an Poe, der in seiner Erzählung „Lebendig Begraben“, den kataleptischen Zustand so darstellt:

Ich war jahrelang den Anfällen jener seltsamen Krankheit unterworfen, der die Ärzte in Ermangelung einer treffenden Bezeichnung den Namen Katalepsie gegeben haben. Obgleich die mittelbaren und unmittelbaren Ursachen fast unbekannt sind, ja sogar die Krankheitsdiagnose selbst noch dunkel ist, so sind doch ihre äußerlich wahrnehmbaren Merkmale zur Genüge bekannt. Ihre Haupteigenschaft besteht in der Verschiedenartigkeit ihrer Anfälle. Manchmal liegt der Patient nur einen Tag oder selbst kürzere Zeit in vollständiger Lethargie. Er ist gefühllos und regungslos, aber der Herzschlag ist noch schwach fühlbar, der Körper ist noch ein wenig warm, ein leichtes Rot färbt die Wangen, und wenn man den Lippen einen Spiegel nähert, so kann man ein träges, unregelmäßiges Atmen wahrnehmen. Dann wieder dauert dieser Zustand Wochen – ja Monate, und dann vermögen die sorgfältigsten ärztlichen Untersuchungen nicht mehr einen Unterschied festzustellen zwischen dem Zustand des Kranken und dem, was wir als Tod bezeichnen.

Der Erzähler schildert nun, wie es ihm anhand des berauschenden Pilzsuds gelingt, sich mit den Träumen seiner kataleptischen Schwester zu verbinden. Doch das sind keine gewöhnlichen Träume, sie gleichen in manchen Punkten Visionen, die in die nahe und fernere Zukunft hinausgreifen und den Untergang des Hauses Duval durch den mörderischen Mob des Dorfes zum Inhalt haben. Und in diesem Dorf …

… herrschte ewige Dämmerung, als weigere sich das Tageslicht diesen Ort aufzusuchen, obgleich er auf einer freien Stelle inmitten des Waldes erbaut war. Die wenigen Lichtstrahlen schwächten sich im Nebel zu einem absonderlichen Glimmen ab, das unablässig zu pulsieren schien und die Farbe von Schimmel besaß.

Aber auch dieses Dorf und der mörderische Pfaffe, der die Dorfbewohner gegen die Duvals aufhetzt, entspringt nur dem Traum des Wesens, das man den „Pilzkönig“ nennt. Verwahrlost und träumend sitzt es in seinem steinernen Turm wie in einer Grabkammer, weiss nicht, was es ist und woher es einst kam, versteht seine eigenen Träume kaum.

Der Untergang des Hauses Duvall

Inzest, Rausch, Traum, eine junge ätherische Frau, dem Tode näher als dem Leben – das alles waren auch die Ingredienzen, mit denen Poe sein makaberes Werk anreicherte. Allerdings verließ dieser selten seinen psychologisch-pathogenen Horror. Michael Knoke geht hier jedoch sehr wohl über eine morbide Schwelle hinweg; die Versatzstücke, die an Poe erinnern, sind für ihn nur Inspiration für ein äußerst bizarres und dunkles Gemälde, das nicht zuletzt auch noch ein Familiengeheimnis birgt, das – um es salopp zu formulieren – dem Fass den Boden ausschlägt.

Der kataleptische Traum ist ein Glanzstück deutschsprachiger Schauerliteratur, beklemmend und atmosphärisch, und dabei äußerst morbide. Keiner, der das Genre liebt, sollte sich diesen Leckerbissen entgehen lassen. Übrigens gibt es auch ein Gemälde, das diesen Titel trägt. Es stammt von Curt Ehrhardt.

MEP

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Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber des Phantastikon.

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