Endlich kann Chicagos einziger offen praktizierender Berufszauberer, Harry Dresden, aufatmen, denn seit langem hat niemand mehr versucht, ihn zu töten. Doch Harrys Ruhe wird jäh unterbrochen, als die Königin vom Winterhof der Sidhe auftaucht, um einen Teil seiner Schulden einzufordern. Harry hatte gehofft, dass dieser Tag nie kommen würde, als er sie vor Jahren um einen Gefallen bat, doch nun schuldet er der stets gefährlichen Mab gleich zwei.
Dies ist das zehnte Buch der dunklen Fälle, und wenn man Butchers eigenen Plänen Glauben schenken darf, sind die Dresden-Files jetzt ungefähr bei der Hälfte der geplanten Serie angelangt. So weit gekommen zu sein, ist eine beachtliche Leistung, vor allem wenn man bedenkt, wie schwer es einigen von Butchers Kollegen fällt, nach ein paar Büchern überhaupt noch etwas zu Papier zu bringen.
Die Stadt der gefallenen Engel
In „Kleine Gefallen“ sieht sich Harry wie gewohnt von allen Seiten mit Tod und Gefahr konfrontiert. Mab, die Königin der Winter-Sidhe, will, dass Harry John Marcone, den Anführer der größten organisierten Verbrecherbande der Stadt, aus den Klauen der gefallenen Engel befreit, die über unermessliche Macht und jahrtausendealte Erfahrung verfügen. Was sie mit Marcone vorhaben, ist unklar, aber man kann sicher sein, dass das Ausmaß ihrer Pläne weit über eine einfache Entführung hinausgeht.
Die beiden Geißlein
In der Zwischenzeit wird Harry von den Vollstreckern der Sommer-Sidhe angegriffen, aus Gründen, die niemand wirklich versteht, am wenigsten Harry selbst. Seine Angreifer sind legendäre Bestien, die berühmten Geißlein, die die Gabe haben, Trolle zu vernichten. Sie sind Brüder, und wenn du es schaffst, einen von ihnen zu besiegen, kannst du sicher sein, dass sein großer Bruder bald auftauchen wird, um sich um dich zu kümmern. Und mit dem ältesten der Brüder, Brausewind, willst du dich nicht anlegen. Er ist nett, aber er macht dich fertig, egal wer du bist.
Nun, es sieht nicht gut aus für Harry Dresden. Aber wann tut es das schon? Dass er es mit Mächten zu tun bekommt, die ihm weit über den Kopf wachsen, ist von Anfang an ein Thema in Harrys Leben, und obwohl wir ziemlich sicher sein können, dass er sich durchsetzen wird, wissen wir nicht, wie viel Schaden er dabei nehmen wird. Aber wer „viel“ vermutet, liegt gar nicht so falsch.
Schnee als Motiv des Romans
Wenn „Schuldig“ vielleicht die beste Atmosphäre hat, so nutzt „Kleine Gefallen“ seine Umgebung wie kein anderer Roman der Reihe. Die ständige Verwendung von Schnee, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne, ist ein sehr wichtiges Motiv im ganzen Roman. Einige Figuren sind im übertragenen Sinne unter Schnee begraben. Sie sind isoliert, kalt und weit von der Gesellschaft entfernt. Die Figur Ivy (Das Archiv) veranschaulicht dies perfekt. Sie ist ein Mädchen, das, ohne zu sehr in die Tiefe zu gehen, ständig im System gefangen ist. Sie will natürlich ihre Kindheit leben, sie will ihre eigenen Entscheidungen treffen, es gibt eine Debatte über den freien Willen, darüber, ob es ethisch falsch ist, sie in Isolation zu halten, oder ob es dem Allgemeinwohl dient. In ihrem Fall hatte sie diese Wahl nicht und wurde gezwungen, das Archiv zu sein (keine Person, sondern eine mächtige Institution).
Das gilt für fast alle Bücher der Reihe. Harry ist ein Außenseiter, zumindest beginnt er als solcher. Auf seinem Weg hat er sich ein gewisses Maß an Autorität, Verantwortung, Respekt und Ansehen bei den Wesen dieser und anderer Welten erworben. Das macht es ihm etwas schwerer, ein Außenseiter zu sein. Statt einfacher Vampire, Werwölfe und gelegentlicher Geisterbeschwörer haben wir es nun mit den ganz Großen wie Mab, Titania und den gefallenen Engeln zu tun.
Das Archiv
Das Archiv wird ihrer Kindheit beraubt, weil sie so ist, wie sie ist, und das Fehlen von Führung (durch eine Familie) macht es noch tragischer. Im Fall von Ivy hat sie Menschen wie Dresden und Kincaid, die sie führen. Das letzte Kapitel mit ihr ist sehr emotional. Es sind auch die kleinen Momente, in denen Butcher brilliert. Das kann man manchmal leicht überlesen, weil Butcher nicht mit einem ausladenden, epischen Ton daherkommt, sondern immer Harry die Stimme überlässt.
Die Macht des Carpenter-Hauses
Um auf den Schnee zurückzukommen: Das sind natürlich nicht nur symbolische Hindernisse, mit denen Dresden konfrontiert wird, und Butcher schafft diese wunderbare Spannung zwischen Metaebene und realer Bedrohung. In diesem Zusammenhang müssen wir auch über das Carpenter-Haus sprechen. Dieser Ort ist so gemütlich, warm und unschuldig, als würde man mit einem Teddybären kuscheln. Im Gegensatz dazu wirkt der Roman durch und durch kalt und brutal. Das Haus der Carpenters wirkt wie ein sicherer Hafen für unsere Helden. Harry selbst hat kein solches Zuhause, sein Zuhause ist eher ein Arbeitsplatz, an dem er mit Bob übt. Wenn man an Dresden denkt, denkt man immer an Arbeit, und das hat etwas Kaltes. Es ist nicht einmal so, dass sich seine Wohnung nicht wie ein Zuhause anfühlt, sie vermittelt eher eine andere Art von Zuhause. Vielleicht liegt es daran, dass Dresden das Carpenter-Haus ganz anders interpretiert als sein eigenes Zuhause, was dieses Gefühl der Behaglichkeit erzeugt. Wenn man darüber nachdenkt, könnte es auch an gewissen religiösen Untertönen liegen. Es ist kein Geheimnis, dass die Carpenters Christen sind. Vielleicht ist es das Gefühl des Glaubens, das die Verbindung zu diesem Haus zum Klingen bringt. Jedes Mal, wenn Ritter Michael auftaucht, wird die Diskussion über das Wesen des Glaubens auf eine metaphysische Ebene gehoben.
Glaube als Thema
Der Glaube ist ein Thema, das in den bisherigen zehn Romanen immer wieder aufgegriffen wurde. Aber hier wird es so weit ausgelotet wie in keinem anderen Dresden-Roman bisher. Das macht die Gespräche mit Michael so interessant, weil es ein ständiges Hin und Her der Ideologien gibt. Es gibt natürlich auch andere Figuren, die sich diesem Konzept nicht entziehen können, vor allem Harry, der diesem System sehr skeptisch gegenübersteht, aber auch Murph, die kurz ein Engelsschwert in die Hand bekommt, und so weiter. Es gibt noch andere Szenen, aber diese sind die deutlichsten, wie der Glaube erforscht wird und wie die Umgebung genutzt wird, um diese wunderbaren Charaktere zu entwickeln.
Konzentration auf Thomas
Die größte Überraschung war die Konzentration auf Thomas in der ersten Hälfte. Denn obwohl „Weiße Nächte“ technisch gesehen sein Roman ist, hatte ich trotzdem mehr Thomas erwartet. Das wird hier auch geliefert, das fängt schon bei den Gesprächen im Monstertruck an. Es ist immer das Thema der Versuchung, das diese Figur umgibt, und hier wird sie auf die Probe gestellt. Gerade nach „White Nights“ wissen wir, dass Justine sich relativ gut erholt hat, aber sie ist eine Doppelagentin geworden. Sie und Thomas lieben sich, können aber nicht zusammen sein, weil Liebe die Vampire des Weißen Hofes tötet.
Ihre Beziehung ist eher tragisch, was in der Geschichte durch den Schal veranschaulicht wird, den Justine trägt, um zu verhindern, dass Thomas ihre nackte Haut berührt. Dann kommt die Münze der gefallenen Engel ins Spiel. Wenn man sieht, wie Thomas die Münze betrachtet, weiß man, dass er einen großen inneren Kampf austrägt, der niemals enden wird. Die Münze ist die Versuchung, all seine Probleme zu lösen, und ironischerweise ist das Tragen von Handschuhen, um den Schal nicht mit der Haut berühren zu müssen, auch der Grund, warum er die Münze nicht in die Hand nimmt.
Harry Dresdens dunkle Fälle werden seit einigen Bänden immer erbarmungsloser, die Einschläge kommen immer näher, und was Butcher mit seinem leichtfüßigen, actiongeladenen Stil in die Gesamtgeschichte packt, ist wirklich beeindruckend.
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