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Review / Die Tausend Träume von Stellavista / J. G. Ballard:

Wer Ballards Werk kennt, ist auch mit seiner surrealen Bildsprache vertraut: mutierte Tropenpflanzen, ausrangierte Flugzeuge und ein besonderes Korallenwachstum. Die Geschichten in dieser Sammlung stammen aus der letzten Phase seines Schaffens, als er noch als exzentrischer Science-Fiction-Autor galt, den man eigentlich nicht einordnen konnte, weil Ballards Geschichten nichts mit konventioneller Science-Fiction zu tun hatten.

Die Figuren dieser grandiosen Erzählungen sind zumeist Künstler und Alkoholiker, viele von ihnen körperlich verstümmelt wie Raymond, ein ehemaliger Pilot, der wegen seines gebrochenen Beins nie wieder fliegen wird (Die Wolkenbildner von Coral D), oder seelisch zerrüttet wie der Anwalt Howard in Die Tausend Träume von Stellavista. Die Protagonisten (bei Ballard immer männlich – Ärzte, Wissenschaftler, Psychologen) sind einander – und vielleicht auch Ballard selbst – ein Rätsel in ihrem Hass, ihrem Neid, ihren obsessiven Erschöpfungszuständen, ihren gebrochenen Persönlichkeiten und ihren Manien, die sie in Scotch ertränken.

So wie die Figuren sich gegenseitig widerhallen, so durchzieht das Zerbrochene ganz Vermillion Sands, den Wüstenkurort der extravagantesten Träume der Reichen. Der Verfall vollzieht sich langsam, aber stetig und spiegelt sich in Ballards Prosa wider. Obwohl wir es hier mit Erzählungen zu tun haben, die einem klassischen Schema folgen, wird die Handlung nicht vorangetrieben, sondern stagniert. Der offensichtliche Einfluss des Surrealismus auf Ballards Werk äußert sich jedoch nicht in Wortspielen und Sprachexperimenten (obwohl diese auch in anderen Werken Ballards zu finden sind), sondern in der bildhaften Ausdruckskraft. Gelegentlich denkt man an Max Ernst oder Yves Tanguy.

Die Geschichten spielen alle vor dem Hintergrund exzessiver Langeweile, es herrscht die Lethargie des Hochsommers, wir befinden uns in einer Zone kollabierender Zeit, viele Figuren leiden unter Strandmüdigkeit, einer dekadenten Mattheit, die Ballard eigens für seine Protagonisten erfunden hat, die sich aber ohne große Schwierigkeiten auf die heutige Mittelschicht übertragen lässt.

Vermillion Sands ist bevölkert von Schmarotzern, Geschäftemachern, Sykophanten und Pseudokünstlern. Man trägt lebende Kleider, deren Farbe und Beschaffenheit sich ständig ändern, aus dem Boden wachsen Klangskulpturen, empfindsame Pflanzen reagieren auf Musik, psychotropische Häuser passen sich den Stimmungen ihrer Bewohner an und werden von deren Neurosen in den Wahnsinn getrieben. Der allgegenwärtigen Langeweile versucht man durch unheimliche Spiele zu entfliehen. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Ballard in der Literatur das erreicht hat, was Dali in der Malerei erreicht hat. Wir befinden uns in den Tiefen der Traumsubstanz, und die verrückten Bilder sind uns nicht ganz fremd, denn sie befinden sich in unserem Unterbewusstsein; sie haben den Charakter einer archetypischen Symbolsprache.


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