Im Bann der Fledermausinsel / Oscar de Muriel

Oscar de Muriels „Im Bann der Fledermausinsel“ ist ein Roman, der wieder einmal die Grenze zwischen historischem Kriminalfall, Schauerliteratur und psychologischer Studie verschwimmen lässt. Das Werk, erschienen 2018 als vierter Band der Reihe um die Ermittler Ian Frey und Adolphus “Nine-Nails” McGray, entfaltet seine Handlung diesmal in den schottischen Highlands, in der Einöde um Loch Maree. Schon der Titel – mit seiner eigentümlichen Verbindung aus landschaftlicher Präzision und morbidem Versprechen – kündigt an, dass hier Natur und Tod, Mythos und Rationalität untrennbar ineinandergreifen.

Im Zentrum der Geschichte steht ein Auftrag, der zunächst unscheinbar wirkt: Eine junge Frau namens Millie Fletcher bittet die Ermittler, ihren Sohn Benjamin zu beschützen, der als unehelicher Nachkomme eines Adligen plötzlich zum Erben erklärt worden ist und nun anonyme Morddrohungen erhält. Was zunächst wie ein klassischer Krimianfang klingt, öffnet sich bald zu einem tiefen psychologischen und symbolischen Raum. Die Ermittler reisen in das schlossähnliche Landhaus der Familie Koloman am Loch Maree – ein Ort, der fast wie ein eigener Organismus wirkt, ein düsterer Körper aus Stein, Nebel und Schweigen. Der See selbst ist dabei nicht bloß Kulisse, sondern ein Spiegel der inneren Vorgänge. Seine Wasseroberfläche ruht trügerisch, unter ihr aber sammeln sich die Schatten der Vergangenheit, verdrängte Schuld und das Unheimliche, das jederzeit wieder auftauchen kann.

De Muriel verwandelt hier die schottische Landschaft in eine Art psychogeografische Matrix, in der sich die Seelenzustände seiner Figuren abzeichnen. Das Loch, der Wald, die Insel – sie sind mehr als Orte; sie sind Schwellen. Die Insel im See, seit druidischer Zeit eine Begräbnisstätte, wird zum Zentrum der Handlung und Symbol des Übergangs. Hier soll sich eine heilende Quelle befinden, deren Wasser McGray für seine in einer Anstalt untergebrachte, wahnsinnige Schwester nutzen will. In diesem Wunsch verdichtet sich das moralische und emotionale Herz des Romans: die Hoffnung, das Unheil der Vergangenheit zu heilen, jenes Unheil, das in der Familie selbst wurzelt. McGray steht in diesem Teil der Serie einem fast metaphysischen Problem gegenüber – der Frage, ob Heilung durch Wissenschaft oder durch Glauben möglich ist, und ob man das eine vom anderen überhaupt trennen kann.

Frey, der skeptische Engländer, fungiert hier wie in allen Bänden als Gegenpol. Sein Rationalismus stößt an Grenzen, je tiefer sie in die Geschehnisse um die Kolomans eindringen. Die Familie ist von einem undurchdringlichen Geflecht aus Schuld, Erbe, religiösem Wahn und Aberglauben durchzogen. Je näher die Ermittler der Wahrheit kommen, desto deutlicher wird, dass hinter der Fassade von Erbfolge und Intrige ein metaphysischer Riss verläuft. Das Böse erscheint nicht als äußere Macht, sondern als etwas Vererbtes, das sich in den Generationen einnistet wie eine Krankheit. Der See ist in diesem Sinn ein Gedächtnisraum: er birgt die Leichen, aber auch das, was sie hervorbrachte. De Muriel nutzt die Symbolik des Wassers meisterhaft. Das Wasser steht zugleich für Heilung und Gefahr, für Läuterung und Ertrinken. Es zieht die Menschen an, weil es Erlösung verspricht, und verschlingt sie, sobald sie zu tief in sich hineinsehen.

Stilistisch bleibt „IM Bann der Fledermausinsel“ dem Ton der Serie treu, doch wirkt hier alles dichter, konzentrierter und dunkler. Die Dialoge zwischen Frey und McGray erinnern mitunter an ein Spiegelgespräch zwischen Vernunft und Wahn, an eine viktorianische Version des doppelten Selbst, wie man es bei Stevenson oder Poe findet. Diese Polarität erzeugt eine permanente Spannung: Frey versucht, alles Übernatürliche als Täuschung zu erklären, während McGray bereit ist, die Welt der Geister, Legenden und Wunder als real anzunehmen – nicht, weil er naiv wäre, sondern weil er erkannt hat, dass der menschliche Geist selbst Teil dieses Übernatürlichen ist.

Das Motiv des Wahnsinns, das in McGrays Schwester seine konkrete Gestalt annimmt, ist hier zentral. Ihre Krankheit ist keine bloß medizinische Kategorie, sondern Ausdruck einer zersprungenen Welt. In der viktorianischen Epoche, die De Muriel so genau rekonstruiert, war Wahnsinn ein Grenzphänomen zwischen Wissenschaft und Okkultismus, eine Zone, in der das Unbewusste erstmals Gestalt annahm. Der Roman spiegelt diesen Diskurs, indem er den Wahnsinn als kollektives Erbe einer moralisch überforderten Gesellschaft zeigt. Die angeblich heilenden Wasser sind eine Chiffre dafür: sie symbolisieren das Verlangen nach Reinheit in einer Welt, die von Sünde und Schuld durchtränkt ist.

Die Beschreibungen der Highlands, der Inseln, der Nebel, der hallenden Stille – all das erinnert an die großen Symbolisten, in deren Naturbildern Außenwelt und Innenwelt ununterscheidbar werden. De Muriel lässt die Landschaft als Symbol für das Unaussprechliche wirken: das Nebelhafte der Berge steht für das Unbewusste, das Loch für das Unterdrückte, der See für das Unheil, das nicht vergessen werden kann. Jede Vision, jedes übernatürliche Element erhält eine rationale, aber nicht minder erschütternde Erklärung. Der Autor spielt mit dieser Ambivalenz: ob das Übernatürliche wirklich existiert oder nur das Produkt menschlicher Schuld und Angst ist, bleibt bewusst offen.

Wenn man De Muriels Werk in einen größeren literaturgeschichtlichen Kontext stellt, so lässt es sich zwischen Symbolismus und Spät-Gothic verorten, mit Einflüssen der Dekadenz und Spuren des Surrealismus. Die Traumhaftigkeit des Settings, das Gleiten zwischen Realität und Legende, die unheimlichen Zufälle und Spiegelungen – all das evoziert eine surreale Logik, in der die Wirklichkeit nicht mehr eindeutig bleibt. Doch anders als bei den Surrealisten bleibt De Muriels Surrealität an die Logik der viktorianischen Welt gebunden, an ihre Grenzen und ihre Angst vor dem Kontrollverlust.

Am Ende steht weniger die Aufklärung des Verbrechens als das Wissen um die Macht des Unbewussten, um das Unauslöschliche in der menschlichen Natur. „IM Bann der Fledermausinsel“ zeigt, dass der wahre Schrecken nicht im Übernatürlichen liegt, sondern in der tiefen Wahrheit, dass jede Rationalität auf einem Abgrund ruht. Der Roman liest sich daher nicht nur als grandioser viktorianischer Krimi, sondern auch als poetisch-symbolische Studie über die Finsternis des Menschen – über das, was unter der stillen Oberfläche der Dinge lauert, und über die ewige Versuchung, das Wasser des Vergessens zu trinken.

MP

Übersetzer, Autor und Redakteur im Phantastikon. Host im Podcast.

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