Sherlock Holmes ist ein nimmermüde werdendes Thema, das hat vor einigen Jahren die großartige BBC-Modernisierung hinlänglich bewiesen (gegenwärtig macht auch Alice (aus dem Wunderland) wieder ein paar Fortschritte). Die Zahl der „Leichenfliegen“, wie ich jene Autoren nenne, die sich einer Figur annehmen und ihr Schindluder damit treiben, ist Legion. Die können wir – abgesehen von Horowitz, der tatsächlich die legitimen neuen Sherlock-Holmes-Fälle vorgelegt hat, aus unserem Gedächtnis streichen.
Graham Moore freilich geht einen anderen Weg und präsentiert uns Conan Doyle höchstselbst, denn schließlich ist er der Mann, der Sherlock Holmes umgebracht hat. Der Originaltitel lautet The Sherlockian, und ausnahmsweise finde ich hier den deutschen Titel etwas besser, weil er sprechend ist. Tatsächlich ist ein Sherlockianer der Protagonist des zweiten Erzählstranges.
Manche werden Graham Moore von den Oscarverleihungen im Jahre 2014 kennen, wo er für die beste Drehbuchadaption zu „The Imitation Game“ ausgezeichnet wurde. In diesem Drehbuch adaptierte er lose Andrew Hodges‘ Buch Alan Turing: Enigma über das Leben von Alan Turing, dem britischen Informatiker, Mathematiker, Kryptoanalytiker und Allround-Genie, der während des zweiten Weltkriegs seine kryptoanalytischen Fähigkeiten zum Knacken von Nazi-Codes einsetzte. Vier Jahre zuvor schrieb er allerdings mit The Sherlockian seinen ersten Roman, der satte neun Jahre später – also 2019 erst auf deutsch erschien, so als hätte man ihn nur durch Zufall entdeckt (was ich für deutsche Verlage ohnehin glaube).
Der Roman ist eine Pflichtlektüre für Fans von Doyles Meisterdetektiv und springt zwischen seinen beiden Protagonisten hin und her. Der eine ist also Doyle selbst, der 1893 seiner Figur langsam überdrüssig wurde, weil diese ein Eigenleben entwickelte und seinen dreiunddreißigjährigen Schöpfer bereits in den Schatten stellte. Warum aber sollte Doyle eine fiktive Figur verachten, die ihm so viel Ruhm und Reichtum einbrachte? Das Problem war, dass viele von Holmes‘ Bewunderern glaubten, Sherlock sei real, und sie machten Doyle mit ihren Briefen und Bitten um Hilfe bei der Aufklärung von kleinen Kriminalfällen verrückt. Am empörendsten aber war für ihn jedoch die Tatsache, dass sie seine anderen – und für ihn „größeren“ Arbeiten – ignorierten.
Protagonist Nummer zwei ist der neunundzwanzigjährige Harold White, ein freiberuflicher Literaturwissenschaftler, dessen Leben vorhersehbar und banal ist. Er erhält großen Auftrieb, als er am 5. Januar 2010 als jüngstes Mitglied in die Baker Street Irregulars aufgenommen wird. Harold ist hocherfreut, endlich Teil „der weltweit herausragenden Organisation zu sein, die sich dem Studium von Sherlock Holmes widmet“. White ist ein Einzelgänger und sozial unbeholfen. Er besucht sogar das jährliche Abendessen der Irregulars mit seinem eigenen Deerstalker-Hut, der „bei weitem sein Lieblingsbesitz“ war. Dieser Princeton-Absolvent ist ein Wunderkind im Fachgebiet Sherlock Holmes, der den Kanon so gut kennt, dass er viele Passagen wörtlich zitieren kann. Außerdem ist er ein Schnellleser, der (ich muss hier sagen: dennoch) über umfassende Literaturkenntnisse verfügt.
Welche Verbindung besteht zwischen Doyle und White? Beide beschäftigen sich mit komplizierten Fragen. Sieben Jahre nach Holmes‘ „Tod“ verübt jemand einen Anschlag mit einer Briefbombe auf Arthur Conan Doyle. Unterstützt von seinem engen Freund Bram Stoker geht Doyle einer Reihe von Hinweisen nach, die zu einem frauenhassenden Serienmörder führen. (Natürlich sind die unfähigen Mitglieder von New Scotland Yard von geringem Nutzen.) White hat sein eigenes Rätsel zu lösen. Einer der führenden Sherlockianer wird tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden, und das heiß begehrtes Tagebuch, das von Doyle im Jahr 1900 geschrieben wurde (und nach seinem Tod nicht mehr auffindbar war), dessen Enthüllung die Sensation der Tagung sein sollte, scheint gestohlen worden zu sein. White beschließt, dass er am besten dazu geeignet ist, sowohl den Mörder als auch das Tagebuch zu finden, und er führt seine Ermittlungen in Begleitung einer hartnäckigen Reporterin namens Sarah.
Tatsächlich macht der Roman eine Menge Spaß, gerade weil einige Teile historisch korrekt wiedergegeben werden, andere völlig frei erfunden wurden, was die Fiktion mit der sogenannten Realität auf angenehme Weise vermischt. Moore verspottet Doyles Wichtigtuerei, Hochnäsigkeit und männlichen Chauvinismus, aber er stellt auch seine Loyalität, sein Ehrgefühl und scharfsinnigen Verstand zur Schau. Bram Stoker (der zu diesem Zeitpunkt seinen Dracula noch nicht geschrieben hatte) ist selbst ein engagierter und ziemlich scharfsinniger Detektiv. Moore persifliert auf unterhaltsame Weise besessene Personen, die sich gezwungen fühlen, Antworten auf Fragen zu finden, die sie quälen, auch wenn sie dabei ihr Leben gefährden.
Der ständige Wechsel von Doyles Abenteuern zu den Abenteuern von White ist schwindelerregend, und der Versuch, Harold ein romantisches Interesse entgegenzubringen, fängt nie Feuer. White ist klug und mutig, aber fad; es ist schwer, ein Interesse an seinem Schicksal zu haben. Die Erzählung ist jedoch mit so vielen faszinierenden Wendungen gefüllt, einschließlich einer Nebenhandlung über leidenschaftlich engagierte britische Suffrageure und ihre Widersacher, dass Fans von Gehirnpuzzles es genießen werden, mit Doyle und White zusammenzukommen, um das Rätsel zu lösen.
Es gibt eine beredte Passage über den Wechsel von Gaslampen in Londons nebelumhüllten Straßen zu den grellen Lichtern des elektrischen Lichts, die den Übergang von einer Ära der Romantik und Mysterien zu einer der Moderne symbolisieren. Moore deutet an, dass etwas Unbestimmbares bei diesem Prozess verloren gegangen ist, was viele Leser, die sich in dieser Epoche zuhause fühlen, leicht verstehen können.
Conan Doyle war bei fortschrittlich denkenden Frauen auch deshalb unbeliebt, weil er ein stimmgewaltiger Anti-Suffragist war und eine entschieden rückständige Sicht auf den Platz der Frauen in der Welt hatte. Als also eine Briefbombe Conan Doyles Büro in die Luft jagte, gab es viele Verdächtige, von Sherlock-Holmes-Fans über wütende Frauen bis hin zu Terroristen, die gegen Arthurs Militärdienst während des Burenkriegs protestierten.
Die Geschichte ist ein unterhaltsamer Einstieg in die Sherlock-Manie, wobei die Amateurdetektive in beiden Zeitlinien „das tun, was Sherlock Holmes tun würde“. Darüber hinaus fügen die Kapitelüberschriften von Graham Moore – die meisten davon sind Zitate aus Sherlock-Holmes-Geschichten – dem Roman ein zusätzliches Element hinzu.