Morgen wird der Sonnenuntergang blau sein

„Komm schon!“ Benns Stimme dröhnt in meinem Helm und es hört sich an, als befände er sich direkt neben mir, obwohl ich zwanzig Meter hinter ihm liege. Ich war noch nie gut im Laufen. Jetzt, bei niedriger Schwerkraft, bin ich noch schlechter. Regelrecht lahm.

Normalerweise würde ich ihm sagen, er soll die Klappe halten und sich gefälligst meinem Tempo anpassen. Wie jeden Abend werden wir den Sonnenuntergang von Dzilt erleben, der sich in einem sanften Blau vom silbernen Horizont des Planeten abhebt. Aber da ich weiß, was ich weiß, lege ich einen Zahn zu. Der große Kerl grinst hinter seinem Visierhelm, als ich den Hügel erreiche, atemlos und verschwitzt in meinem hautengen Anzug. Meine Brust hebt sich. „Du hast gewonnen“, schnaufe ich.

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Leidenschaftslos

Als das Telefon klingelte, erwachte Louis ohne Erinnerung an seinen Traum und mit einem flauen Gefühl im Magen, das er nicht einordnen konnte. Er beugte sich vor, trotz der späten Stunde und des plötzlichen Erwachens hellwach, und nahm den Hörer ab.

Die Stimme am anderen Ende sprach in einem rauen Flüsterton und er setzte sich mit einem Anflug von tierischer Angst auf. Seine Hand fand seine schlafende Frau, streichelte ihren Oberschenkel unter der Decke.

Die Stimme sagte: „Wie lange dauert es, bis ich mich verliebe?“ „In welchem Jahr hast du alles verloren?“ „Wie fühlst du dich jetzt?“ „Ist sie schon tot?“ „Bist du allein?“ „Spürst du sie?“

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Wermut

Arles, 1888

Sie starrte ihn intensiv an, fasziniert von den Konturen seiner Ohren, von der Art und Weise, wie sie sich nach außen zu wölben schienen, von der Fleischigkeit der Ohrläppchen. Natürlich konnte sie nichts davon wissenschaftlich beweisen, aber sie war davon überzeugt, dass die Form der Ohren wunderbare Einblicke in den Charakter eines Menschen geben konnte.

Die knackige Dezemberluft kühlte sie bis auf die Knochen. Sie schlang sich ihre Federboa um den Hals und knöpfte ihre Samtjacke zu. „Vincent, ist dir nicht kalt?“, fragte sie. Ihr Begleiter löste sein Halstuch und schüttelte es aus. Es war vergilbt und mit schmutzigen Flecken von Leinöl und Pigmenten übersät und stank nach Terpentin. Er wischte sich mit dem schmutzigen Lappen über die Stirn und steckte ihn dann in seine abgenutzte Tasche. Mit Schrecken bemerkte sie, dass seine Fingernägel ungepflegt und mit Halbmonden von schwarzer Kohle und Farbe übersät waren.

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Es war einmal ein Körper

Während meine Großmutter Matzeknödelsuppe kochte, spielte ich auf dem großen gelben Feld. Sie summte vor sich hin und beobachtete mich vom Fenster aus. Sie hatte es mir schon einmal gesagt: Geh nie in diesen Wald! Als sie sich umdrehte, ging ich dennoch weiter auf dem verbotenen Weg. Bäume, einst fern am Horizont, wuchsen über mich hinweg. Ich verlor mich in den Geräuschen eines flötenden Baches und dem tiefen Summen von Hornissen. Die Sommerblätter färbten sich goldgelb und schimmerten im Sonnenlicht. Gefesselt von der Schönheit bemerkte ich kaum die Steine, die aus dem Boden ragten. Ich stolperte und fiel in eine grüne Masse, die mit leuchtendem Chicorée bedeckt war. In der seltsamen Form entdeckte ich Augen und Lippen, die in die Erde gekerbt waren. Das Gesicht und der Körper eines Mannes waren zu einem Teil des Waldes geworden. Ich schrie und grub, suchte nach seinem Herzen, aber alles, was ich fand, war ein mit Schlamm und Dreck gefüllter Rippenkäfig. Warum war er hier? fragte ich ihn wieder und wieder. Aber alles war still. Ich blieb und wartete auf ein Lebenszeichen, aber der Mann bewegte sich nicht. Meine Großmutter rief in der Ferne: „Katarina! Katarina!“ Ich wollte nicht weggehen, weil ich ihn sonst nie wieder finden würde. „Katarina! Katarina!“ Ich kehrte ins kanariengrüne Gras zurück und rannte auf die vertraute Tür des Hauses zu. Ich hielt nur einmal inne, um einen Blick auf den Horizont zu werfen, aber der Wald hinter mir war verschwunden.

Abstieg in den lichten Schatten

Ich erwachte in meinem fensterlosen Turm, in dem es nach alten Büchern und Würmern roch, die sie befallen hatten, und fegte die bleichen, geflügelten Viecher aus meinen gelockten Haaren, wo sie sich eingenistet hatten. Ich schüttelte die seidigen Körper von mir, stand auf und starrte auf die weiße Kugel aus sanftem Licht, die knapp über meinem länglichen Schatten schwebte – die Kugel, die von jeher mein Begleiter war. Durch ihr Licht konnte ich die Worte aus den alten Büchern verschlingen, Silben, die ich schmecken konnte, sobald sie gesprochen wurden. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie ich die Kunst des Lesens erlernt habe, aber ich kann mich schwach an die Frau erinnern, die in meinen Träumen tanzte und immer ein weißes Buch in der Hand hielt, die mir die leuchtenden Blätter zeigte und vorsichtig ihre stummen Lippen bewegte, damit ich die Worte verstehen konnte, die sie bildeten.

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Laughing Jack

„Du hättest dir sicher was Besseres aussuchen können“, schnauzt sie. „Wie soll das die Leute hierher locken?“

„Jill, vertrau mir.“ Ich zwinkere ihr zu, während ich die letzten Styroporteile von der Figur wegblase.

„Laughing Jack wird sie schon zu uns reinlocken. Denk mal drüber nach. Das ist ein nettes, nautisches Thema. Plastikkrabben und Hummer, Fischernetze an den Wänden … aber was ist es wirklich, das diese Kneipe von den anderen unterscheidet?“ Ich grunze, während ich die Attrappe im Erkerfenster platziere.

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Wandern in meinem Gehirn

Die Menschen in meinem Kopf scheinen schon sehr lange dort zu sein. Ich weiß nicht, wie lange, denn ich kann mich an nichts anderes erinnern als an das freundliche, pastellfarbene Krankenhauszimmer, in dem ich aufgewacht bin. Der Arzt, ein großer Mann mit markantem Schnurrbart und grauem Haar, sagt, ich habe Amnesie. Er ist mein ältester Freund, denn er war dabei, als ich aufwachte, und kam mich danach jeden Tag besuchen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage es insgesamt sind. Doktor Pulbarton, das ist sein Name. Ich habe auch einen Namen, wie es scheint. Randolf. Der Doktor will mir meinen zweiten Namen nicht verraten; ich glaube, er hofft, dass er mir wieder einfällt.

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Die Knochen und ihr Mädchen

Es ist das erste Mal, dass Camille seine Knochensammlung sieht.

Sie schlendert am Rand von Simons Bücherregal entlang und streicht mit ihren Fingern über die Exemplare in den Regalen. Die sanft beleuchteten Knochen erinnern sie an Muscheln, glatt und weiß, seidig unter ihrer Berührung. Kleine Tierschädel mit Zähnen, die scharf genug sind, um die Haut zu durchbohren; ein größerer mit gewundenen Hörnern, die Art, über die man in der Wüste stolpern kann, wenn einem das Wasser ausgeht; einzelne Knochen; ein Glasgefäß mit Zähnen.

Der Rest der Wohnung ist dunkel. Sie wirft einen Blick auf Simons schlanke Silhouette am Fenster. Die Sonne geht hinter ihm unter und verschluckt die Stadt. „Ist einer von ihnen menschlich?“

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Alice

Leere, atemlose, ohrenbetäubende Isolation. Solange ich mich erinnern kann, war ich in einem einzigen Raum gefangen. Ich war so jung und doch alt genug, um zu wissen, dass ich nicht auf dem Dachboden hätte eingesperrt werden dürfen. Ich hatte eine Matratze auf dem Boden, eine Toilette, eine Badewanne und zerlumpte Stofftiere, die mir ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln sollten.

Meine Tage verbrachte ich damit, auf und ab zu gehen, Lieder zu singen, die ich mir selbst ausgedacht hatte, und in die Wände zu ritzen. Anfangs ritzte ich Bilder von mir, wie ich mit anderen Kindern spielte. Es war eine Herausforderung, sich vorzustellen, wie sie aussahen, aber ich war mit meinem eigenen Spiegelbild in den Wassergläsern gesegnet, die durch den Schlitz gereicht wurden.

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Antic Soccer

Erst klirrte es im Untergeschoß bei den Wilferds, aber der Ball muß dabei am Fensterkreuz abgeprallt und zurück ins Getümmel gesprungen sein, denn wenn die da draußen nicht zwei Bälle in ihrer Mangel hatten – was vorkam – hätte es nicht kurz darauf auch bei uns einschlagen können.

Ich betrachtete den speckigen Lederbatzen, der gespickt mit Kristallsplittern auf unserem besten Teppich saß. Ich schnappte ihn mir, bevor die Tür aufgehen, und mich meine Frau zur Verantwortung ziehen konnte, so als hätte ich selbst den Ball durch die Scheibe geschossen.

»Deine ›Zufälle‹ gibt es nicht! Du ziehst das Unglück an wie der Unrat die Fliegen! Also frage ich dich: Wer hat Schuld, wenn du da bist, wo etwas Unschönes geschieht?! DU! Das sage ich dir: DU! Also komm‘ mir nicht mit Zufällen!«

Sie fand dann, durch das Klirren motiviert, doch den Weg zu mir, und verschönte das Läuten und Klopfen und Grölen, das anschließende Hämmern mit der Faust, weiteres Klirren, als die Meute von der Straße versuchte, ins Haus zu gelangen. Erstens, um uns zu töten, zweitens, um sich den Ball wieder zu holen.

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