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Eine Geschichte über die Anderen

Nur mal angenommen, wir lernen Menschen kennen, die uns normalerweise erschauern lassen würden. Weil sie gar nicht mehr da sein dürften. Es sind nette, ein bisschen seltsame, durchweg aber freundliche, aufmerksame, hilfsbereite Menschen. Gut so weit. Und dann finden wir Fotos von ihnen. Alte Post-mortem-Bilder. Echte Bilder, die unmittelbar nach ihrem Tod gemacht wurden. Eben Bilder von just Verstorbenen, die man im 19. und frühen 20. Jahrhundert zur Erinnerung an geliebte Familienmitglieder und innig geschätzte Freunde noch eilends anfertigen ließ und in Ehren hielt. Diese Bilder waren die oft einzigen Aufnahmen von ihnen, – die Fotografie, noch in den Kinderschuhen, war halt eine sehr kostspielige Angelegenheit – , und sie zeigten deren Leichen. Das war, salopp formuliert, ja auch besser als nichts.

Nun nehmen wir nochmals an, wir lernen diese Leichen kennen, ohne zu wissen, dass es welche sind. Da läuft es einem schon kalt den Rücken herunter. Nicht schleichend, sondern in eisigem Rutsch. Wir haben Geister getroffen. Mit ihnen gesprochen.

Vielleicht ist man ja selbst schon tot

Vielleicht haben wir diese besondere Gabe. Vielleicht sind wir aber auch selbst schon tot. Wollen das nicht wahr haben und müssen auf Umwegen begreifen, dass wir jetzt dazu gehören. Zu den Anderen. Wer weiß.

Geschichten über die Anderen gibt es reichlich. Einige sind wohl wirklich wahr. Manche sind erdacht, geträumt, gewünscht. Oder ein bisschen wahr. Und speziell diese eine hier? Ist auf jeden Fall gut. Wirklich gut. Sie heißt:

The Others. Ganz schlicht. Die Anderen. Eine krasse Klasse-Story. Ein beseelter Romanautor aus der Ecke, in der das Kerzenlicht verdächtig flackert, hätte aus dem Stoff ein Wahnsinnsbuch gemacht. Regisseur Alejandro Amenábar war aber schneller. Er hatte die Grundidee, tatsächlich erkennbar erst beim grandiosen Gänsehaut-Finale, schrieb das Drehbuch, komponierte die Musik, setzte auf künstlerischen Freigang im Dämmerlicht und die Urangst vor der Dunkelheit, kreierte Großes und sagt(e) bescheiden:

„Es gibt weder Helden noch Bösewichte. Nur Menschen, die versuchen, eine Bedeutung in den Dingen zu finden, die ihnen widerfahren.“

Hat alles bestens funktioniert. Der Mystery- und Psychothriller aus dem Jahr 2001 mit der bleichen, kühlen Schönheit Nicole Kidman in der Hauptrolle ist ein absolut stimmiger Gruselschocker mit visuellen Anleihen an die große Schwarz-Weiß-Horror-Film-Aera der 40er-Jahre, der leise Klänge langsam und düster durch die Nerven jagt, bis der Trommelwirbel einsetzt. Famos finstere Töne sind das, herrlich edel und fürchterlich echt. Genial durchdacht, das Ganze: Der Zuschauer wandert mit stetig steigender Erregung und Erwartung durch die Geschichte, die einsame Gegend, das alte Anwesen, die düstere Atmosphäre, die merkwürdigen Akteure werden ihm vertrauter, er glaubt, zu verstehen, und steht am Ende vor einer Erkenntnis, die ihn wie ein plötzlicher Regenguss hautnah und eiskalt erwischt.

„Keine Messer, keine Schlitz-Szenen, keine dunklen, vermummten Killer, allein die Musik ist klassisch spannungsfördernd, um nicht zu sagen spannungsheischend eingesetzt.“ (Wolfgang Huang, filmspiegel.de)

Schauplatz des Films, der hauptsächlich in Kantabrien, Madrid und auf der Kanalinsel Jersey gedreht wurde, ist ein imposantes altes Gemäuer, das von einem riesigen, üppig bewachsenen Grundstück umgeben ist. An diesem irritierend schönen und doch gänzlich unheimlichen Ort bleibt der Zuschauer ausnahmslos bis zum verblüffenden Ende Gast, kurzweilige Ausflüge, die von der geheimnisvollen Stätte mit etwas netter Idylle vielleicht mal ablenken könnten, gibt es nicht. Ein Picknick im Grünen bei Sonnenschein und bester Laune steht nicht im Drehbuch, hier herrschen Strenge und Konzentration vor, Traurigkeit, Sorge, Furcht, Zweifel und Angst.

Alles erstklassig inszeniert und herüber geschickt. Die Resonanz war dementsprechend: The Others spielte bei vergleichsweise bescheidenen 17 Millonen US-Dollar an Produktionskosten weltweit in den Kinos rund 210 Millionen US-Dollar ein, erhielt etliche Auszeichnungen, allein acht Goyas und den Saturn Award in drei Kategorien, darunter Bester Horrorfilm.

Lobende Worte für den spanischen Regisseur, der 1997 mit Abre los Ojos (Virtual Nightmare – Open your Eyes: Remake Vanilla Sky, 2001) bereits die Reise über den großen Teich mit Ziel Film-Olymp erfolgreich anvisiert hatte, fanden viele, die notorischen Nörgler, die nicht anders können, blieben herrlich ruhig. So schrieb Manfred Müller 2001 im Spiegel:

„Alejandro Amenábar hält eindrucksvoll Einzug in Hollywood. Mit seinem subtilen Gruselfilm „The Others“ trieb er seine Hauptdarstellerin Nicole Kidman zu Höchstleistungen an und schuf einen Genreklassiker, der ohne grelle Effekte auskommt und auf die Phantasie des Zuschauers setzt.“

Viel Phantasie, viel Finsternis

Zur Story sei Wesentliches gesagt, eben das, was man vielleicht eh‘ längst weiß, aber gern mal wieder im von finsteren Sinnen beseelten Kopf hätte: Ende des Zweiten Weltkriegs, Kanalinsel Jersey: Grace lebt mit ihren Kindern Anne und Nicholas in völliger Abgeschiedenheit in einem riesigen Landhaus und hofft auf die Rückkehr ihres Ehemanns Charles, der als Soldat für England gekämpft hat. Personal ist zwar vorhanden, dieses verlässt Grace aber ohne Erklärung. Sie findet unverhofft Ersatz in der Haushälterin Mrs. Mills, dem Gärtner Mr. Tuttle und der stumme Dienstbotin Lydia. Die drei erhalten konkrete Anweisungen: Türen immer verschließen, Vorhänge stets zugezogen halten, um die Kinder zu schützen, die an einer Lichtallergie leiden. So weit geklärt, das Unheil nimmt seinen Lauf, es wird bedrohlich, es wird wirklich richtig spannend.

Da sind überall unerklärliche Geräusche, Grabsteine, die Wahres raunen, die kleine Tochter, die von einem fremden Jungen und einer seltsamen alten Frau erzählt, da ist eine verstörte Grace, die ein Foto-Album mit Bildern von Mrs. Mills, Mr. Tuttle und Lydia findet, die sie (völlig zu Recht) erschrecken, die durch den Nebel irrt, um den Pfarrer aufzusuchen und stattdessen auf Charles trifft, der sie ins Haus begleitet, mit dem sie streitet, mit dem sie schläft, der die Nacht bei ihr bleibt, einzig, um am nächsten Morgen wieder spurlos zu verschwinden. Wie eine Spukgestalt. Wie ihre Tochter, die plötzlich als völlig andere, schreckliche Person vor ihr steht. Wie eben all die Geister, Untoten, Seelen, die Zurückgelassenen, Wiedergekommenen, die Heimatsuchenden in Geschichten wie The Others es zu tun pflegen. Weil das nur so funktioniert, wenn auf eine Art gefesselt werden soll, die mächtig Eindruck hinterlässt. Nicht mehr, nicht weniger.

„Dieses Haus gehört uns.“

Hinzu kommt dieser herrlich angestaubte Stil, da werden beste Erinnerungen an Filme wie Hitchcocks berühmten Nervenkitzler Rebecca wach. Kurz und präzise formuliert ist The Others ein „…an klassischen Vorgaben orientierter düsterer Thriller, dessen vermeintlich vorhersehbare Geschichte in dem Augenblick umschlägt, in dem man glaubt, alles begriffen zu haben. (Lexikon des Internationalen Films). Philipp Bühler in Die Tageszeitung formuliert diesem einen Wahnsinns-Augenblick im antiquiert scheinenden Ambiente recht salopp, haut aber hin:

„Natürlich ist es vor allem das nostalgische Flair, das „The Others“ von neueren Mystery-Thrillern wie „Sixth Sense“ abhebt. Viktorianische Kommoden sind einfach behaglicher als ausflippende Kühlschränke und Fernsehgeräte.“

Und weil die Kommoden sich allmählich beruhigen, kocht Mrs. Mills irgendwann, vielleicht im Morgengrauen, vielleicht in der Dämmerung oder typisch um Mitternacht allen „eine gute Tasse Tee“ und nickt ihnen zu, während sie lächelnd im Chor flüstern: „Dieses Haus gehört uns.“

Und alles ist gut. Könnte so sein. Wäre echt schön. Könnte auch anders sein. Wäre echt gruselig. Oder beides. Immer gut.


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