Die Totenfrau von Edinburgh / Oscar de Muriel

Der Okkultismus nimmt in Die Totenfrau von Edinburgh nicht nur die Funktion eines dekorativen Motivs ein, sondern bildet die tragende Struktur, auf der der gesamte Roman ruht. De Muriel nutzt das Übernatürliche nicht als bloßen Reiz des Viktorianischen, aber auch nicht als triviales Grauen, das sich am Ende rational auflöst. Der Okkultismus ist vielmehr die Bruchstelle, an der sich die geistigen Welten seiner Figuren reiben: jene der etablierten Wissenschaft, die sich im späten 19. Jahrhundert zunehmend als Hoheitsmacht verstand, und jene des Spiritismus, der damals keineswegs als Randphänomen galt. De Muriel spielt bewusst mit der historischen Tatsache, dass Séancen, Geisterfotografie und mediale Zirkel gerade für die gebildeten Schichten faszinierend waren, weil sie zugleich Trost, Unterhaltung und metaphysische Antwortversprechen boten.

Im Zentrum steht Madame Katerina, die das Medium verkörpert, aber nicht als Scharlatanin gezeichnet wird. Ihr Status bleibt immer in der Schwebe: Sie ist weder eindeutig Betrügerin noch eindeutig Verbindungsglied zu einer jenseitigen Welt. Genau in diesem Schwebezustand entfaltet sich der Roman. Der Okkultismus ist hier weniger eine Sammlung von Ritualen als ein Weltzustand: eine Art Zwischenreich, in dem Schuld, Trauma und gesellschaftliche Konflikte eine Stimme finden. Die Séance, in der sechs Menschen sterben, wirkt wie ein düsteres Sakrament, in dem die Vergangenheit der Familien – ihre gegenseitigen Kränkungen, Erbstreitigkeiten, verborgenen Verletzungen – plötzlich Gestalt gewinnt. Der Geist, den Katerina beschwört oder zu beschwören vorgibt, ist letztlich die materialisierte Summe all dessen, was verschwiegen wurde. De Muriel zeigt damit sehr fein, dass der Okkultismus im Viktorianischen nicht nur ein exotisches Hobby war, sondern psychologisch funktional: Er bot eine Sprache für das Unsagbare.

Frey und McGray repräsentieren die beiden epistemischen Pole, zwischen denen der Okkultismus oszilliert. Frey, der alles erklären will, steht für eine Welt, die dem Übernatürlichen keinen ontologischen Raum mehr zugesteht. Für ihn ist Okkultismus vor allem dort interessant, wo er menschliches Fehlverhalten verschleiert oder ausnutzt. McGray dagegen sieht in den Geistern eine existentielle Realität; seine Überzeugung ist nicht lächerlich, sondern emotional tief verankert und mit persönlichen Erfahrungen verbunden, die ihn für das Irrationale empfänglich machen. Zwischen beiden Perspektiven entsteht jene Spannung, die den Okkultismus im Roman nicht als abgeschlossene, abgrenzbare Kategorie erscheinen lässt, sondern als etwas, das ständig in die rationale Welt hineinragt. Er wird damit nicht zu einem exotischen Außen, sondern zu einer Alternative der Wahrnehmung, die jederzeit glaubhaft zur Wahrheit werden könnte.

Besonders clever ist de Muriels Umgang mit der Ungewissheit. Der Roman hält seine Leser in genau der gleichen epistemischen Unsicherheit wie seine Figuren. Er bietet Spuren in beide Richtungen: Hinweise auf Manipulation und Betrug, ebenso wie Erlebnisse, die sich jeder natürlichen Erklärung entziehen. Diese Ambivalenz erzeugt eine Form des modernen Unheimlichen, das nicht aus Monstern oder Schocks besteht, sondern aus der Erkenntnis, dass die Welt – trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte – nicht so eindeutig ist, wie wir gern glauben. Das Unheimliche in „Totenfrau“ entsteht aus der Möglichkeit, dass die Geister tatsächlich existieren könnten, nicht weil sie uns ins Gesicht springen, sondern weil sie in die Risse der rationalen Ordnung eindringen. De Muriel knüpft damit an eine lange literarische Tradition an, die vom viktorianischen Schauerroman bis zu Henry James reicht: das Übernatürliche als Ausdruck verdrängter oder unauflösbarer Konflikte.

Gleichzeitig spielt der Roman sehr bewusst damit, wie sehr der Okkultismus im 19. Jahrhundert mit sozialen Strukturen verwoben war. Die Séance ist zwar ein metaphysisches Ereignis, aber mehr noch Schauplatz eines sozialen Rituals: Hier begegnen sich drei Familien, deren Animositäten unter der dünnen Schicht bürgerlicher Anstandsformen brodeln. Der Okkultismus wird zur Projektionsfläche ihrer Ängste und Machtspiele. De Muriel zeigt, wie eng die Sehnsucht nach der jenseitigen Stimme mit dem Bedürfnis nach Kontrolle und Deutungshoheit verbunden ist. Die Frage „Wer spricht da?“ ist im Roman immer auch die Frage: „Wer darf die Wahrheit besitzen?“

Im Ergebnis steht der fünfte Band der Reihe wieder einmal nicht auf der Seite der Wissenschaft und nicht auf der Seite des Spiritismus. Der Roman verweigert sich beiden eindeutigen Deutungen. Der Okkultismus ist das Schweigen zwischen den Erklärungen, das Dunkel zwischen den Theorien – ein Raum, der nie vollständig ausgeleuchtet werden kann. Diese Unbestimmtheit macht seine Wirkung aus und verleiht dem Buch eine Tiefe, die über den bloßen Kriminalfall hinausweist. De Muriel nutzt das Übernatürliche nicht als Trick, sondern als ernstzunehmende Dimension menschlicher Erfahrung, die sich im historischen Rahmen Edinburghs vielleicht noch stärker behauptet als heute.

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MP

Übersetzer, Autor und Redakteur im Phantastikon. Host im Podcast.

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