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Die Knochen und ihr Mädchen

Es ist das erste Mal, dass Camille seine Knochensammlung sieht.

Sie schlendert am Rand von Simons Bücherregal entlang und streicht mit ihren Fingern über die Exemplare in den Regalen. Die sanft beleuchteten Knochen erinnern sie an Muscheln, glatt und weiß, seidig unter ihrer Berührung. Kleine Tierschädel mit Zähnen, die scharf genug sind, um die Haut zu durchbohren; ein größerer mit gewundenen Hörnern, die Art, über die man in der Wüste stolpern kann, wenn einem das Wasser ausgeht; einzelne Knochen; ein Glasgefäß mit Zähnen.

Der Rest der Wohnung ist dunkel. Sie wirft einen Blick auf Simons schlanke Silhouette am Fenster. Die Sonne geht hinter ihm unter und verschluckt die Stadt. „Ist einer von ihnen menschlich?“

„Frag sie.“

Camille lacht. Die Knochen sind stumm.

Sie erfüllen sie mit einer seltsamen Sehnsucht. Sie wünscht sich, auch ihre Knochen wären so schön wie sie. Aber die Knochen in ihrer Schulter blühen wie Korallen und haben ihren eigenen Plan. Sie wollen, dass sie stirbt.

Simon umarmt sie von hinten. Sonnenhafte Wärme durchflutet sie. Er flüstert ihr ins Ohr. „Darf ich dich zeichnen?“

Erst jetzt bemerkt sie die Skizzen an der gegenüberliegenden Wand: Totenköpfe und Blumen, Knochen und Früchte. Die Trauben und Orangen lassen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie kann sehen, dass er Talent hat – alles sieht gleich lebensecht aus. Sie nickt. „Okay.“

Sie setzt sich auf die Bettkante, streicht ihr langes Haar glatt und wartet auf Simons Anweisungen. Ihre Finger ruhen auf den Knöpfen ihrer lavendelfarbenen Strickjacke, fragen: Soll ich sie ausziehen? Sie dreht ihren Kopf und fragt: So oder so? Sie legt ihre Hände auf ihren Schoß –

Simon hebt grinsend die Hand. „Wie du willst, aber bleib bitte ruhig.“

Sie sagt sich, dass sie sich entspannen soll, dass sie Camille sein soll. Aber welche? Es gibt viele Versionen – gesund und krank, früher und heute, hier und nicht hier. Manchmal fühlt sich keine von ihnen real an.

Ein leiser Schmerz hallt in ihrer Schulter wider. Sie widersteht dem Drang, sie zu berühren, sagt sich, dass sie auf keinen Fall anders aussieht als heute Morgen im Badezimmerspiegel. Er wird es nicht bemerken. Sie knöpft ihre Strickjacke auf, lässt sie aber an.

Während er sie zeichnet, beobachtet sie ihn. Manchmal treffen sich ihre Blicke.

Simon sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, die Ärmel hochgekrempelt, einen großen Zeichenblock auf dem Knie balancierend. Sonnenstrahlen und langgezogene Schatten fegen über die Dielen um ihn herum. Ab und zu streicht er sich die dunklen Locken aus den Augen. Während er zeichnet, sieht sein Gesicht irgendwie anders aus. Offener, fast göttlich. Er ist derjenige, der unsterblich gemacht werden sollte.

Simon legt den Bleistift weg. „Das ist genug für heute.“

„Zeig mal her.“

Er setzt sich neben sie und reicht ihr die Zeichnung.

Camille stößt einen kleinen, hohen Laut aus. Er hat sie gezeichnet, aber mit den Umrissen eines Totenkopfes über ihrem Gesicht, ihre Augen starren aus den Höhlen, und ihre Knochen sind über ihre Haut und ihre Kleidung gelegt. Ein Porträt eines Skeletts mit der Andeutung eines Mädchens drum herum.

Sie atmet heftig ein. „Warum hast du mich so gezeichnet?“

Simons Stimme ist ruhig, sanft. Anders als ihre. Er fragt: „Bist das nicht du?“

Sie kann nicht aufhören, das Mädchen und ihre Knochen anzustarren, die Knochen und ihr Mädchen. Die Knochen, die sie töten wollen.

Sie will das Porträt gerade auf den Boden werfen, als sie zwei gezackte Linien auf dem skelettierten Handgelenk bemerkt.

Ihre Stimme ist leise, vorsichtig. Sie deutet auf das Bild. „Was ist das?“

„Ein Unfall, als du noch jung warst. Du hast die Straße überquert, als dich ein Auto angefahren hat.“

Camille erinnert sich an den blitzartigen Schmerz, das Heulen aus ihrer Kehle auf dem Weg ins Krankenhaus, den Gips, den sie tragen musste, während ihre Brüche heilten. Damals kamen ihr sechs Wochen wie eine Ewigkeit vor.

Sie berührt ein dunkles Spinnennetz entlang ihrer Rippen. „Was ist damit?“

„Du bist von einem bockenden Pferd gefallen. Du warst so entschlossen, wieder aufzusteigen, dass die Sanitäter dich fast zum Krankenwagen schleppen mussten.“

Ihre Hände zittern und das Bild mit ihnen. Da ist noch mehr: Ein dunkler Schatten über der Schulter, der sich bis zum Schlüsselbein ausbreitet. Genau wie auf den Scans an der Wand in der Praxis ihres Arztes. „Und das?“

Er nimmt ihr den Zeichenblock aus den schlaffen Händen und legt ihn sanft ab. „Du weißt, was das ist.“

Natürlich weiß sie das, natürlich. Das Ding, das nicht aufhört zu wachsen, das Ding, das sie nicht vergessen kann, anscheinend nicht einmal mehr bei ihm, und das sie, wenn überhaupt, wütend macht. Deshalb hat sie es ihm auch nicht gesagt.

Ihre Stimme bricht. „Woher weißt du das?“

„Deine Knochen haben es mir gesagt.“

„Was haben sie dir noch gesagt?“

„Ihre Namen.“

Camille wendet sich ihm zu. Ihre Stimme ist sanft, bedürftig. „Sag sie mir.“

Simon nimmt ihre Hand in seine, schließt die Augen und küsst ihre Daumenkuppe. „Handwurzelknochen.“ Seine Lippen sind warm, weich. Sie wandern zu ihrem Handgelenk. „Elle. Speiche.“

Camille legt sich auf die Matratze. „Alle von ihnen.“

Er zieht sie nicht aus, schält nur so viel Stoff beiseite, um die Haut erreichen zu können. Sein göttlicher Mund versiegelt jeden Knochen ihres Körpers, alle zweihundertsechsundzwanzig. „Schienbein. Wadenbein. Oberschenkelknochen. Darmbein“ Er streift ihr die Strickjacke von der Schulter. Der Kuss, der folgt, dauert eine Liebesminute. „Schulterdach.“ Seine Stimme hat sich verändert. Als er ihr Schlüsselbein berührt, zittert sie, aber weder vor Freude noch vor Schmerz. „Schlüsselbein.“

Der aufsteigende Schleier in ihrem Blick verwischt die Flügel des Deckenventilators, seinen Gesichtsausdruck, das Licht aus dem Bücherregal. „Ich wette, du kannst es kaum erwarten, mich in deinen Regalen zu haben.“

„Ich würde dir ein Museum bauen.“

Ein müdes Lachen entweicht ihren Lippen. „Jetzt, wo du ihre Aufmerksamkeit hast, kannst du ihnen vielleicht sagen, dass sie sich benehmen sollen.“

„Ich glaube, das habe ich gerade getan. Sie sagen, sie versuchen es. Das Problem mit den Knochen ist, dass die meiste Kommunikation stumm erfolgt. Gesten, Bewegungen, Schmerzen. Man muss sanft mit ihnen reden und genau zuhören, um zu verstehen, was sie wollen.“ Er drückt ein Ohr an ihre Brust, gleich links neben ihrem Brustbein. „Hörst du das?“

Camille schließt die Augen. Ihre Brust hebt und senkt sich wie der Ozean. „Das ist mein Herz.“

„Deine Knochen hören es auch. Und sie lieben den Klang.“

(Das Original erschien 2019 in Syntax & Salt)


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