Der Rattenfänger (Retter und Rächer)

Bild von Oskar Herrfurth (1862-1934)
Bild von Oskar Herrfurth (1862-1934)

An einem Sommertag des Jahres 1284 ereignete sich in der kleinen norddeutschen Stadt Hameln ein mysteriöses Ereignis, das durch die Jahrhunderte nachhallen sollte. Der Legende nach wurden 130 Kinder von einer geheimnisvollen Gestalt, dem Rattenfänger, weggeführt. Mit seinem bezaubernden Flötenspiel lockte er sie in ein ungewisses Schicksal. Was wirklich mit diesen Kindern geschah, ist bis heute unbekannt. Die Geschichte entwickelte sich jedoch von einer tragischen historischen Notiz zu einer der berühmtesten Legenden aller Zeiten. Diese Geschichte, in der sich Geschichte und Volksüberlieferung vermischen, inspiriert Künstler seit Jahrhunderten und ist zu einem lebendigen Teil der visuellen, literarischen und darstellenden Kunst geworden.

Die Legende vom Rattenfänger ist einzigartig, da sie die Grenze zwischen aufgezeichneter Geschichte und Mythos überschreitet. Ausgangspunkt ist ein rätselhaftes Ereignis: das Verschwinden von 130 Kindern aus der Stadt Hameln. Im Gegensatz zu vielen anderen Volksmärchen, die nur auf mündlicher Überlieferung beruhen, hat diese Geschichte einen nachvollziehbaren historischen Anker. Die Hausinschrift am Rattenfängerhaus aus dem 17. Jahrhundert berichtet:

Rattenfängerhaus Innschrift

Welche Ursache könnte ein solches Verschwinden haben? Es gibt keine Berichte aus der Zeit des Ereignisses, nur vage Andeutungen in späteren Aufzeichnungen. Es werden weder Ratten erwähnt, noch wird Magie angedeutet – es wird lediglich die Tatsache erwähnt, dass die Kinder verschwunden sind.

Im Laufe der Jahrhunderte haben Historiker und Volkskundler verschiedene Theorien aufgestellt, aber keine kann das Geheimnis endgültig erklären. Einige glauben, dass sich die Kinder einer Massenwanderung anschlossen und Anwerbern folgten, die ihnen neues Land in Osteuropa versprachen. Während dieser Zeit wurden deutsche Siedler eingeladen, Regionen im heutigen Polen, Rumänien und Ungarn zu besiedeln. Der Rattenfänger könnte demnach ein charismatischer Anwerber gewesen sein, der die Jugend der Stadt weglockte.

Kinderkreuzzug
Kinderkreuzzug

Andere deuten auf ein düsteres Schicksal hin: Vielleicht sind die Kinder einer Krankheit erlegen, die durch die Figur des Sensenmannes in Form des Rattenfängers symbolisiert wird. Seuchen waren im mittelalterlichen Europa weit verbreitet und katastrophale Ereignisse wurden oft in Legenden als Metaphern dargestellt. Einige Wissenschaftler bringen die Geschichte auch mit dem Kinderkreuzzug in Verbindung. Dabei handelte es sich um ein historisches Ereignis, bei dem sich große Gruppen von Kindern auf den Weg ins Heilige Land machten, von denen viele nie zurückkehrten. Der Kinderkreuzzug ist Gegenstand umfangreicher Debatten und scheint das Ergebnis einer Fehlinterpretation des lateinischen Wortes „Pueri” (KInder) zu sein, das mit dem Wort „Pauper” verwechselt wird, welches „arm” bedeutet. Historiker wie Norman Cohn oder Peter Dinzelbacher vertreten die These, dass es sich bei diesen „Kindern“ vielleicht gar nicht um echte Kinder handelte, sondern um arme Leute, Bettler, Wanderprediger oder Tagelöhner.

Weitere Theorien beziehen sich auf eine Naturkatastrophe, beispielsweise einen Erdrutsch, oder sogar auf rituelle Opfer, die in einigen düsteren Nacherzählungen angedeutet werden.

Wurden die Kinder zum Sterben in die Berge gebracht, um zu verhindern, dass sich die gesamte Bevölkerung mit der Krankheit „Chorea Sydenham” (benannt nach dem englischen Arzt Thomas Sydenham) ansteckt, die auch als „Veitstanz” bekannt ist? Darüber gibt es Hinweise in der Erfurter Chronik von 1237 und in der „Chronik von Maastricht” von 1278.

Eine weitere interessante Hypothese stammt von dem Lokalhistoriker Gernot Hüsam. Die überzeugten katholischen Freiherren Spiegelbergs waren demnach entschlossen, die jugendliche Rebellion gegen ihre religiöse Bekehrung in der Gegend zu beseitigen. Zu diesem Zweck heuerten sie einen Jäger in heller Kleidung an, der 130 Kindern der Stadt Hameln auf einen „Kalvarienberg” (wie jener, auf dem Christus zur Rettung der Menschen geopfert wurde) in der Nähe der Stadt folgte und sie dort dann tötete, während sie ihre heidnischen Rituale durchführten.

Teufelsküche Ith
Teufelsküche via auf-den-berg.de

Als Ort des Geschehens kommt der nur 15 Kilometer von Hameln entfernte Berg Ith in Frage, auf dem sich die „Teufelsküche” befindet, die traditionell mit heidnischen Riten verbunden sind. Tatsächlich wird der Ith in der mündlichen Überlieferung der Stadt als Schauplatz von Ritualen und „dämonischen”, oft sexuellen Festen beschrieben, die von den Klängen eines Pfeifers begleitet wurden. Während der Zeremonien spielte er und forderte die Jugendlichen zum Tanzen auf. Eine der frühesten künstlerischen Darstellungen des Rattenfängers war ein Buntglasfenster in der Hamelner Kirche, das um 1300 zum Gedenken an das Ereignis geschaffen wurde. Obwohl das Fenster in späteren Jahrhunderten zerstört wurde, sind Beschreibungen erhalten geblieben, die eine lebendige Darstellung des Rattenfängers zeigen, der die Kinder verführt. Dieses Kunstwerk diente wahrscheinlich sowohl als historisches Zeichen als auch als moralische Warnung, indem es die Erinnerung an die verlorenen Kinder bewahrte und die Geschichte in die Kultur der Stadt einbettete.

Die jüngste Märchengeschichte (die Version von 1857 aus den „Siebenbürgischen Sagen“ von Friedrich Müller) erzählt, dass die Bürger im Jahr 1284 einen Rattenfänger beauftragten, um die Ratten, die ihr Dorf überrannt hatten, mit dem Versprechen einer üppigen Belohnung wegzulocken. Er tat es, aber die Hamelner betrogen ihn um seinen Lohn. So kehrte der Rattenfänger ein Jahr später zurück und lockte auch die Kinder weg, um sie an einen „Ort der Freude“ zu begleiten. In der ursprünglichen Fassung des Märchens von 1812 gab es jedoch kein Happy End, und die Kinder wurden in eine Höhle gebracht, wo sie für immer verschwanden. Nur zwei Kinder konnten sich vor der Entführung retten, weil sie sich aufgrund ihres Handycaps verspätet hatten. Das eine war blind und konnte niemanden den Weg beschreiben und das zweite war taubstumm und war ebenfalls keine Hilfe.

Im Laufe der Zeit haben sich Künstler von der seltsamen Mischung aus Charme und Schrecken des Rattenfängers inspirieren lassen. Von frühen Darstellungen in mittelalterlichen Kirchen bis hin zu modernen, abstrakten Interpretationen wurde der Rattenfänger zu einem dauerhaften Symbol für die Macht der Kunst, zu verzaubern – und für ihr Potenzial, zu täuschen.

Mittelalterliche Künstler verwendeten den Rattenfänger häufig als Symbol für gebrochene Versprechen oder göttliche Vergeltung. Holzschnitte und Wandteppiche aus dem 15. und 16. Jahrhundert zeigen zunehmend fantastische Elemente, darunter die Ratten, die die Geschichte heute dominieren. In diesen frühen Werken wird der Rattenfänger als überlebensgroße Figur dargestellt, die seine Rolle als Retter und Rächer betont.

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