Das zweite Gesicht

Das Prinzip der Zwillinge: Das zweite Gesicht (Kai Meyer)

Heute schaue ich mir einen der besten und erfolgreichsten Erzähler der deutschsprachigen Phantastik etwas näher an, zumindest eines seiner Bücher. Die Rede ist von Kai Meyer und seinem Roman „Das zweite Gesicht“, das urprünglich 2002 bei Heyne erschien und im Blitz-verlag 2012 als schön gestaltetes Hardcover neu aufgelegt wurde und als solches leider längst schon wieder vergriffen ist. Das mag auch daran liegen, weil die Neuauflage im selben Jahr den Vincent Preis für den besten Horrorroman gewonnen hat, obwohl es sich gar nicht um einen Horroroman handelt, aber es sei jedem selbst überlassen, das zu beurteilen.

Besonders stark ist Kai Meyer immer dann, wenn er historisch wird und seine Fabulierlust mit geschichtlichen Ereignissen verquicken kann. So ein Buch haben wir hier vor uns.

Die Jahrhundertwende als künstlerischer Ausdruck

Die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert war aus künstlerischer Sicht eine der fruchtbarsten und interessantesten überhaupt, und eine der letzten Keimquellen der deutschen Phantastik. Motive der Spätromantik wurden hier mit modernen Facetten versehen und ein roter Faden dieser literarischen Entwicklung war eindeutig zu erkennen. Doch der Aufbruch war nicht nur ein literarischer, sondern ein gesamtkünstlerischer und auch gesellschaftlicher. Deutschland war weltweit die Hochburg des neuen und aufregenden Mediums Film, und das Berlin der 20er Jahre neben Paris die Welthauptstadt der Kultur.Die Freizügigkeit dieser Ära stand den Hippies der 60er Jahre in nichts nach und ist mit heutigen Maßstäben nicht mehr zu erfassen. Und hinter allem stand die Lust am Okkulten, am Verborgenen. Der Spiritismus hatte bereits seit Jahrzehnten Hochkonjunktur, was viele Historiker sich als Gegenbewegung zur explodierenden Macht der Industrialisierung erklären. Ähnliches hatte es zu Zeiten der Aufklärung gegeben, als die Romantiker wie zum Trotz die Nachtseite der Natur aus dem Hut zauberten. Musik, Literatur, Tanz, Film … der Expressionismus war das Ding der Stunde, starker Ausdruck und subjektives Erleben waren erwünscht. Die Themen Krieg, Verfall, Angst und Weltuntergang trieben starke stilistische und thematische Blüten.

Kai Meyer hat sich mit dieser düsteren, aber auch kreativen Epoche beschäftigt. Neben historischen Figuren, die hier erwähnt werden (Alfred Kubin, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Bernhard Goetzke usw.), die das deutsche Filmschaffen als Realität dokumentieren, gelingt es Meyer, seine fiktiven Figuren so geschickt zu platzieren, dass man das eine kaum vom anderen Unterscheiden kann. Während zum Beispiel Augusto Cruz in seinem Roman  „Um Mitternacht“ die Fakten nimmt und daraus einen dunklen Thriller spinnt, macht Kai Meyer das genau umgekehrt. Er nimmt seine fiktive Geschichte und garniert sie mit geschichtlichen Ereignissen. Das Ergebnis ist genauso effizient.

Das Prinzip der Zwillinge

Chiara Mondschein reißt von Meißen nach Berlin, um ihre Schwester Jula Mondschein zu Grabe zu tragen, die sie seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hat und von der sie mittlerweile nicht mehr viel weiß. In der Zwischenzeit ist diese nämlich zu einem gefeierten Star der Stummfilm-Ära geworden. Dabei ist unklar, warum sie sich umgebracht hat. Eigentlich will Chiara nur die Formalitäten der Bestattung hinter sich bringen und wieder abreisen. Dabei trifft sie auf Felix Masken, Autor und Produzent, der Jula als Mentor diente. Der bietet Chiara an, den unvollendeten Film „Der Fall des Hauses Usher“, in dem ihre Schwester agierte, dann aber das Handtuch warf, fertigzustellen, da die Ähnlichkeit der beiden frappant ist. Außerdem könnte der Film den in Misskredit geratenen Felix Masken rehabilitieren. Seit der Katastrophe beim Dreh zu Medusa, wo etliche Komparsen jämmerlich verbrannten, und der nie fertiggestellt wurde, steht es mit seinem Ruf nämlich nicht zum Besten.

Diese Idee ist natürlich selbst schon melodramatisch. Die tote Schwester wäre dann in einigen Szenen zu sehen, während die jüngere Schwester den Film beendet. Poe, für den der Tod einer jungen Frau die höchste Form der Poesie darstellte, wäre wahrscheinlich entzückt gewesen, hätte er zu seiner Zeit schon etwas über das Prinzip des Films gewusst. Chiara, die alles andere als eine Diva oder gar Schauspielerin ist, nimmt nach einigem Zögern das Angebot an, denn auch wenn sie vorgibt, Jula zu hassen, weil sie die fünf Jahre jüngere Chiara und ihren Vater allein gelassen hat, um in Saus und Braus zu leben, ist sie doch neugierig geworden. Die tote Schwester schwebt in all ihren bekannten und unbekannten Facetten um sie herum, schaut Chiara in einen Spiegel, sieht sie weniger sich selbst als Jula, von der sie doch so wenig zu wissen scheint. Möglicherweise kommt sie Julas Beweggründen für ihr Leben und ihren Tod niemals näher, als wenn sie in ihre Fußstapfen tritt.

Die erste wirkliche Verfilmung des Stoffes um Poes berühmte Geschichte erfolgte erst 1927. Daran beteiligt war der mexikanische Surrealist und Filmemacher Luis Buñuel, aber Kai Meyers Felix Masken hätte durchaus das Recht gehabt, noch früher dran zu sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass Alfred Kubin die Kulisse des Films erschaffen hätte. Die Zutaten, die Meyer hier versammelt und durchmischt, sind derart gut in den historischen Fluss eingewirkt, dass man sich manchmal die Augen reibt und denkt: So hätte es durchaus sein können.

Kai Meyer fängt die extremen Verhältnisse an den Sets der damaligen Zeit genauso beklemmend ein, wie sie gewesen sein müssen, als man noch nichts von Arbeits- oder Brandschutz wusste, als Statisten noch für einen Teller Suppe von der Straße geholt wurden und quasi vogelfrei waren.

Die spiritistische Mode

Die erste Spiritismuswelle, die durch die Kulturzentren Europas ging, hatte ihren Ursprung bereits 1849. Begünstigt durch Katastrophen wie den ersten Weltkrieg erlebte das Sprechen mit den Toten jedoch im frühen 20. Jahrhundert einen enormen Aufwind. Es gab wohl keine Schicht, die diese denkwürdige Praxis nicht in der ein oder anderen Form umsetzte. Chiara Mondschein macht während ihrer Entwicklung von der Landpomeranze zur Diva, die sie niemals sein wollte, selbstverständlich ebenfalls einschlägige Erlebnisse. Nun kann man ihre Versuche, mit ihrer Schwester Kontakt aufzunehmen, allerdings nicht als harmlos bezeichnen. Gerade die Episode im Scheunenviertel, das von Meyer mit historischer Akkuratesse gezeichnet wird, ist äußerst beklemmend geschildert. Man spürt die Gefahr förmlich aus den Seiten springen. Möglicherweise mag der Leser die erste Hälfte des Buches als lediglich historischen Abriss einstufen, herausragend und detailreich vorgetragen, aber spätestens hier wird klar, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist und dass Meyer nicht beabsichtigt, nur herumzuplänkeln. Er lässt Chiara nach und nach scheinbar den Verstand verlieren. Es ist unklar, ob Chiara zunehmend merkwürdige Dinge halluziniert, oder ob sie diese immer bedrohlicher werdenden Dinge wirklich erlebt, ob es sich nun um drogengeschwängerte Orgien in Berliner Prominentenlokalen handelt, oder um Stimmen in ihrem Kopf, den zunehmenden Verfolgungswahn. Stets fühlt sie sich mit ihrer toten Schwester konfrontiert, der man unter anderem auch einen Fluch angedichtet hat – Julas Fluch – der für einige Unfälle in den Filmateliers verantwortlich gemacht wird und jetzt auf sie überzugreifen scheint.

Hinzu kommt die rätselhafte Operationsnarbe an ihrem Bauch, die auch ihr ermordeter Schauspielkollege hatte. Zunächst sah es so aus, als hätte sie diesen Eingriff nach einem kleinen Autounfall tatsächlich gebraucht. Mehr und mehr verdichten sich jedoch auch hier die merkwürdigen Spuren. Als Sahnehäubchen gibt es da noch die Villa ihrer Schwester, die Chiara überhaupt nicht beziehen wollte, die aber auch niemand kaufte, so dass sie schließlich doch noch einzog. Und damit wird die Überschneidung zwischen ihr und Jula perfekt. Es ist beinahe das Prinzip von Zwillingen, die – auch wenn sie getrennt von einander sind – frappierend viel Ähnlichkeiten in ihrer Lebensführung aufweisen. Hier ist diese tragisch, sie ist dunkel und rätselhaft. Doch die Wahrheit ist eine andere. Es scheint, als wäre die Schwestern-Thematik nur die Vorstufe zum Doppelgänger-Motiv, das seit der Romantik eines der beliebtesten in der Phantastischen Literatur war. Und tatsächlich gleitet Chiara immer tiefer in einen Wahnsinn, der allerdings nicht der ihre ist. Dabei spielt die Theosophie und Nietzsches Übermensch keine geringe Rolle. Die Harmlosigkeit pseudophilosophischer Kreise beginnt hier umzuschlagen und zu einer perfiden Tatsache zu werden.

Das Doppelgänger-Motiv

In der Literatur ist ein Doppelgänger meist als Zwilling, Schatten oder das lebendige Spiegelbild eines Protagonisten gekennzeichnet. Das Motiv bezieht sich auf eine Figur, die dem Protagonisten physisch ähnelt und auch den gleichen Namen haben kann. Mehrere Arten von Doppelgängern sind in der Weltliteratur zu finden. Er kann die Form eines bösen Zwillings annehmen, der der tatsächlichen Person nicht bekannt ist, und der dadurch einige Verwirrung stiften kann. Manchmal ist ein Doppelgänger das vergangene oder zukünftige Selbst einer Person.

Betrachten wir das Motiv in „Das zweite Gesicht“, dann finden wir Echos von verschiedenen Doppelgänger-Verwicklungen. Das Motiv beginnt mit den beiden Schwestern und entwickelt sich später zu einem wirklichen Problem, wo es zu den echten Doppelgängern kommt. Allerdings geht es hier nicht um einen bösen Zwilling oder ein gar dämonisches zweites Selbst, sondern um einen Missbrauch der Originale. Das zu vertiefen, steht mir hier nicht an, ich würde der Erzählung einiges von ihren Höhepunkten nehmen.

Das Buch ist hervorragend ausbalanciert und erstaunlich gut geschrieben. Darüber sollte man eigentlich kein Wort verlieren müssen, aber es ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Hier sitzen die Details an den richtigen Stellen, die Sprache trägt wie ein Luftkissen, so dass man sich darüber keine Gedanken machen muss und sich voll und ganz auf die Geschichte konzentrieren kann.

Die überarbeitete Hardcover-Ausgabe bei Blitz ist leider vergriffen, aber es ist nicht schwer an eine der Taschenbuchausgaben zu gelangen. Im überbordenden Œvre Kai Meyers nimmt dieser Roman sicher noch einmal eine besondere Stelle ein. Mir selbst ist kaum ein Autor bekannt, der historische Settings derart gekonnt und atmosphärisch mit einer phantastischen Handlung verwebt, so dass ein einziger – nahezu perfekter Guss – daraus entsteht. Das macht ihn zu einem der wenigen deutschen Autoren mit erzählerischem Weltniveau.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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