Lovecraft

Das Portal zu einem alternativen Universum in „Stadt ohne Namen“

Vertraut ist dem Leser und Maniac des Kosmischen Grauens der Typus des Forschers, den Lovecraft uns vorausschickt, eine Welt zu erschließen, die gehörig an unserem inneren Wahrnehmungskosmos rüttelt. Eine, die nicht vom Menschen ausgeht. So lese ich zumeist. Die uns unser Dasein auf dem Erdball, unser Erleben und die Empfindungen, die wir daraus ableiten, mächtig dunkel einfärbt. Schon früh als „literarischer Kopernikus“ von seinen Schriftstellerkollegen eingestuft, gibt er uns den neugierigen, besonders empfänglichen Typus an die Hand. Der über so viel Wissen verfügt, dass ihm mindestens klar sein muss, oder spätestens während seiner Erkundungsodyssee absolut klar werden wird, dass er im Grunde nichts weiß. Dass er mehr und mehr erfährt, was ihm widerfährt, je weiter er sich wagt, während er die Zeit gewissermaßen hinabkriecht. Eine Figur aus sich, aus Lovecraft selbst genommen, die ihm als Schablone diente, sich seinen Yog-Sothoth-Mythenzyklus (oder, wie es dem Gros der Leser und Fans durch August Derleth, den man auch den Erdgucker schimpft, in den Mund gelegt wurde: Cthulhu-Mythos) zu erschreiben. Eine Figur, wie wir sie immer wieder in seinen Erzählungen finden. Der kosmische Archäologe. -Klar! Bedeutet ἀρχαῖος (archaios) zu deutsch nichts anderes als alt. Die Lehre vom Alten, den Altertümern. Oder: den “Großen Alten”. Also richtig alt. Fossiler als fossil. Urur sozusagen. The Beginning … vielleicht …

Stadt ohne Namen

Ohne dass wir in der Erzählung Stadt ohne Namen erfahren, wie es dazu kam, sind wir, wie auch der Ich-Erzähler, direkt konfrontiert mit einer Stadt ohne Namen, einer Stadt in der Arabischen Wüste, die er schaurig aus den Dünen ragen sieht, so, wie Leichenteile aus einem hastig geschaufelten Grab ragen mögen. Wir erfahren nur, dass er von ihr durch andere Wissende, die über sie am Feuer flüsterten, oder von greisen Frauen in den Zelten der Scheichs bereits gehört hatte. Wichtigster „Zeuge“, der ihm die Existenz dieser Stadt ohne Namen annehmen lässt, ist der wahnsinnige Dichter Abdul Alhazred, der von dieser in den Nächten träumte, ehe er seinen rätselvollen Zweizeiler sang:

That is not dead which can eternal lie, And with strange aeons even death may die.

Nicht weniger eine Erfindung Lovecrafts wie auch Arkham, die Miskatonic-University oder das Necronomicon, das von jenem wahnsinnigen Dichter Alhazred geschrieben wurde und das seinen eigenen Mythos erlangte.

Die Stadt selbst wird hier teilweise als Wesen begriffen, das sich in der unendlichen Weite der Wüste, dem Ich-Erzähler gegenüber Wahrnahme verschafft. In einer unwirtlichen Umgebung, die dem Menschen seit jeher, seit der Verweisung aus dem Paradiese, einiges abverlangt. Ihre wie aus einem Grab ragenden Leichenteile, das Aufkommen jener zu Sonnenunter- und -aufgang immer wiederkehrenden Windstöße (bzw. Sandstürme), die mit einem schaurigen Seufzen oder dämonischen Stöhnen einhergehen, all das lässt sie von ihr künden, ihrer Zeit, die sie einmal hatte, deren Blüte, wie im Text benannt, 10 Millionen Jahre andauerte. Noch ehe der Grundstein zu Memphis gelegt wurde, … als die Ziegel Babylons noch nicht gebrannt waren.

Doch wovon kündet sie? Oder besser: Was verkündet sie?

Das erhofft sich der Ich-Erzähler durch ihre Architektur, ihre Relikte, die er in ihr zu finden vermutet, zu erfahren. Dass sie verflucht ist, weiß er sofort. Das erfahren wir schon im ersten Satz. Untermauert wird dies kurze Zeit später durch weitere Angaben: … eine unsichtbare Aura stieß mich ab und gebot mir, vor diesen uralten und unheildrohenden Geheimnissen zu fliehen, die kein Mensch je erschauen sollte, und die auch kein Mensch außer mir jemals zu erschauen wagte. – Etwas, das mich sehr an das Bilder- bzw. Abbildungsverbot vornehmlich monotheistischer Religionen erinnert:

Sollst dir kein Bild machen!

Und doch! Trotz all der Angst und Furcht, die ihn erfasst, tut er es, vom Stachel der Neugier getrieben, mit all seinen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen und dem Wissen, an dem er das Fremde / Unbekannte abzugleichen versucht. Was er vorfindet ist eine Architektur der Angst bzw. eine Urarchitektur der Urängste. Der Leser lernt mit ihm zu kriechen, sie sich mit ihm und durch ihn zu erschließen. Gebückt und geduckt durch wahnsinnig enge Räume, die, trotz der teilweise extrem erdrückenden Niedrigkeit der Decken, doch teilweise auch durch ihre Weite bestechen. Die er, entgegen aller inneren Gegenwehr, erforscht, ganz gleich wie dunkel es ist, oder ob ihm seine Fackel, die er bei sich trägt, erlischt. So kann er in den meisten der ‚Tempel‘ kaum aufrecht knien, muss kauern, ähnlich einem Embryo. Tunnel sind sie ihm, Schlünde, in die er hineinkriechen, vor allem aber hinabkriechen muss. Also fernab von dem, was wir uns unter dem Begriff ‚Tempel‘ vorstellen, in denen wir uns doch eher durch ein umgekehrtes Größenverhältnis, als es hier gegeben ist, verlieren, uns den Gottheiten, für die wir sie erbauten, gegenüber als klein empfinden. Aber auch hier ist es ein Sich-verlieren. Nur eben ein gewaltig massives. Da für den Protagonisten kaum mehr als nur die Hand vor Augen sichtbar ist. Tunnel für Tunnel ihre Ausdehnung, ihre Konstruktion von ihm erkundschaftet wird, die mich unweigerlich an die innere Struktur der Pyramiden der alten Ägypter denken lässt. Nichts für Menschen, die unter Raumangst leiden. Eigentlich für niemanden was, sich mutterseelenallein in diesen ‚Schächten‘ und Schlünden fortzubewegen. Zumal er das teilweise rücklings tun muss. Mit den Füßen voran, immer tiefer hinab. Keine Haltung, die man gerne und vertrauensselig einnehmen würde. Es ist eine, ganz gleich aus welcher Kultur wir stammen, in der wir uns ausgeliefert empfinden. Der von der Architektur absolut in die Mangel genommene Körper wird zum Psychosoma. Während die Räume und Schächte der Pyramiden darauf ausgelegt sind, dass die Seele nach dem Tode und der Einbalsamierung der Verstorbenen ihren Weg ins All finden kann, indem sie durch die Anordnung der Räume durch die Anlage gelotst wird und zum Schluss gen Himmel schießt, droht der Seele hier der ultimative Wahnsinn.

Altäre, sargähnliche, an den Wänden angebrachte, kleine Holzkästen mit verglaster Front findet er vor. In denen mumifizierte groteske Geschöpfe liegen, die er der reptilischen Gattung zuschreibt, da ihre Körperform ihn an Krokodile erinnert. Dann aber wieder an einen Seehund, häufiger jedoch an nichts, wovon der Zoologe wie auch der Paläontologe jemals gehört haben. So groß wie ein kleiner Mensch sind sie. … ihre Vorderbeine liefen in zartgliedrige und offenkundige Füße aus, die den menschlichen Händen und Fingern eigentümlich ähnelten. Doch am sonderbarsten von allem waren ihre Köpfe … – blitzartig schossen mir so verschiedenartige Vergleiche wie zur Katze, zur Bulldogge, zum sagenhaften Satyr und zum Menschen durch den Sinn. Sogar Jupiter selbst besaß keine solch mächtige, vorspringende Stirn, zugleich jedoch verwiesen die Hörner, die fehlenden Nasen und die alligatorartigen Kiefer diese Organismen jenseits aller anerkannten Kategorien. Er hegt den Verdacht, dass es sich bei diesen Geschöpfen um künstliche Götzenbilder handeln könnte, ist aber dann wieder von ihrer Echtheit überzeugt. Auch die Wandmalereien und Deckenfresken, die er findet, die die Geschichte dieser Geschöpfe abbilden, sie in ihren Städten und Gärten zeigen, ist er versucht zunächst als Allegorie zu lesen. Einzig eine Abschlussszene zeigt einen primitiv aussehenden Mann, vielleicht einen Pionier des vorzeitlichen Irem, der Stadt der Säulen, wie er von Angehörigen der älteren Rasse in Stücke gerissen wird. (Anm.: Irem, die im Koran erwähnte untergegangene Stadt, die gewissermaßen als Atlantis der Wüste / des Sandes gilt.) Und je mehr er entdeckt, je tiefer er in diese Räume / die Kultur dieser Wesen vordringt, dabei allein auf seine Sinne und Vorstellungskraft zurückgeworfen ist, umso mehr wird er durch ein Licht, eine Art Phosphoreszenz, die aus diesen Tiefen hervorgeht, denen er entgegenkrabbelt, obwohl es ihm wie ein Zurückkriechen in der Zeit ist, sehend. Im letzten ‚Raum‘, in den Lovecraft ihn schickt, wurde alles von den leuchtenden Schwaden verhüllt.

Das Unbekannte, das Fremde wird zum Unkennbaren. Zum absoluten Horror:

Fremd, fremder: Alien.

Ich bin gewillt zu schreiben: in der Hölle angekommen, ward ihm Licht. Eines, das ihm Kreaturen ins Pupillne wirft, die selbst Lucifer vielleicht erschrecken würden, bevor ihn die Dunkelheit endgültig schluckt:

Als ich mich umdrehte, sah ich … eine Albtraumhorde heranspringender Teufel; hassverzerrte, grotesk herausgeputzte, halb durchsichtige Teufel einer Rasse, die kein Mensch verwechseln kann – die kriechenden Reptilwesen der Stadt ohne Namen. Und als der Wind erstarb, wurden die Eingeweide der Erde um mich herum in ghoulische Finsternis getaucht; denn hinter der letzten der Kreaturen schlug die mächtige Messingtür mit einem ohrenbetäubenden Donnern metallischer Musik zu und ihr schallendes Echo dröhnte hinaus in die ferne Welt, um die aufgehende Morgensonne zu grüßen, so wie Memnon sie von den Ufern des Nils aus begrüßt.

Wir wissen nun also, dass es bereits Zwölf geschlagen hat, um meine eingangs gestellte Frage: was sie, die Stadt, verkündet, an dieser Stelle zu beantworten. Wir wissen jedoch nicht, ob es sich bei dieser Stadt ohne Namen, ihren Resten, um ein Zeugnis einer untergegangenen Kultur handelt, die es so auf diesem Erdball einmal gab, oder ob sie ein Portal darstellt, das den Ich-Erzähler in eine andere kosmische Dimension / Welt hinein nimmt, ihn sich einverleibt. Und es scheint mir, als hätten wir Erdenkinder, die den Blick auch immer wieder gen Himmel richten, eine zweite, nicht sichtbare Fontanelle, in die Dunkles strömt, die sich niemals schließt, solange wir noch einen Körper, Sinne haben.

Albera Anders

Albera Anders

Studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Heidelberg und schreibt seit 2016 für das Phantastikon.

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