Das Phantom von Versailles

In der langen Geschichte der menschlichen Wahrnehmung gibt es Ereignisse, die sich einer einfachen Erklärung entziehen. Sie existieren in einer Grauzone zwischen dem, was wir für Realität halten und Illusion, zwischen Wissenschaft und Mystik. Eine solche Begebenheit ereignete sich an einem drückenden Augustnachmittag des Jahres 1901, als zwei englische Akademikerinnen, Eleanor Jourdain und Charlotte Moberly, auf den gepflegten Wegen des Schlosses von Versailles wandelten – und sich, wie sie glaubten, unversehens in eine andere Zeit versetzt sahen. Ihr Bericht, später in dem Buch An Adventure publiziert, wurde zu einer der bemerkenswertesten und kontroversesten Erlebnisse der paranormalen Literatur.

Die Begegnung mit dem Vergangenen

Eleanor Jourdain und Charlotte Moberly

Eleanor Jourdain und Charlotte Moberly reisten mit dem Zug nach Versailles, um das Schloss zu besichtigen. Von dort aus begaben sie sich zu Fuß zu ihrem Ziel und erkundeten zunächst die Räume und Galerien des Palastes. Zunächst erlebten sie nichts Außergewöhnliches. Doch als sie die berühmten Gärten betraten, veränderte sich die Atmosphäre schlagartig. Ein bedrückendes, schwereloses Gefühl legte sich auf sie, ein Zustand, den sie später als „traumhafte Dunstigkeit“ beschrieben. Bald begegneten sie Gestalten, die nicht in ihre Zeit zu gehörten: Männer in merkwürdigen Uniformen, ein Mann mit höchst unheimlichem Gesicht, eine Frau, die in altmodischer Kleidung unter einem Baum zeichnete. War es eine Marquise des Ancien Régime oder gar Marie Antoinette selbst, die ihnen begegnete?

Diese Visionen dauerten nur einen Augenblick, und doch hinterließen sie einen bleibenden Eindruck. Zurück in England begannen sie, ihre Erlebnisse zu analysieren, Karten zu studieren, Berichte aus der Zeit Ludwig XVI. zu konsultieren und festzustellen, dass sie durch einen Versailles-Park gewandert waren, der so gar nicht mehr existierte. Gassen und Bauwerke, die sie gesehen hatten, waren längst verschwunden.

Zwischen Wissenschaft und Mystik

Die Rezeption ihrer Geschichte war ebenso zwiespältig wie die Erfahrung selbst. Ihre Zeitgenossen reagierten mit einer Mischung aus Faszination und Skepsis. Die Society for Psychical Research, eine Organisation, die sich mit unerklärlichen Phänomenen befasste, untersuchte den Fall und konnte keine eindeutige Erklärung liefern. Waren die beiden Frauen in eine Art „Zeittasche“ geraten, einen Spalt in der Wirklichkeit, der sie in das achtzehnte Jahrhundert versetzte? War es eine Halluzination, ausgelöst durch Hitze, Erschöpfung oder eine gemeinsame Autosuggestion? Die Hypothese einer „folie à deux“, einer psychischen Störung, bei der zwei Menschen dieselbe Wahnvorstellung entwickeln, wurde oft angeführt. Betrachtet man die beiden Persönlichkeiten genauer, ist sie jedoch unhaltbar. Eine Reduktion auf eine bloße psychologische Deutung führt zwangsläufig ins Leere.

Die verborgenen Identitäten der Zeitreisenden

Interessanterweise wurde die wahre Identität der beiden Frauen in der Erstveröffentlichung verschleiert. Unter den Pseudonymen Frances Lamont und Elizabeth Morison publizierten sie ihr Werk zunächst anonym – ein Umstand, der Spekulationen über ihre wahren Beweggründe weiter anheizte. Jourdain und Moberly waren keine naiven Touristinnen, sondern hochgebildete Frauen aus der akademischen Elite. Ihre Rollen als Rektorin und stellvertretende Direktorin des St. Hugh’s College in Oxford gaben ihnen zwar Autorität, jedoch auch Anlass zur Sorge um ihren Ruf.

Die damalige akademische Welt, insbesondere an einer so konservativen Institution wie Oxford, war von einem tief verwurzelten Misstrauen gegenüber Frauen geprägt. Sie wurden als Studentinnen zweiter Klasse betrachtet, ihr Zugang zu den intellektuellen Kreisen blieb begrenzt. Die Geschichte von Versailles könnte also nicht nur eine spontane paranormale Erfahrung gewesen sein, sondern auch der unbewusste Versuch, sich durch die Verbindung mit einem Mysterium von historischer Tragweite Gehör zu verschaffen. So zumindest der Vorwurf.

Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von An Adventure tauchten weitere Berichte über seltsame Erfahrungen in Versailles auf. Touristen und Historiker erzählten von unheimlichen Begegnungen mit Gestalten in altmodischer Kleidung, von Momenten der Orientierungslosigkeit oder von einer unerklärlichen Stille, die sich plötzlich über bestimmte Bereiche der Gärten legte. Einige spekulierten, dass das Schloss mit seinem dichten Netz aus Geschichten und Erinnerungen eine Art Resonanzraum für vergangene Epochen sei – ein Ort, an dem die Grenzen zwischen den Zeiten zeitweise verwischen.

Parallel dazu nahmen moderne Wissenschaftler das Phänomen erneut unter die Lupe. Neuere Forschungen über die menschliche Wahrnehmung und das Gedächtnis legten nahe, dass intensive emotionale Zustände das Zeitempfinden beeinflussen können. Könnte es sein, dass Jourdain und Moberly, durch ihre Vorbildung und die suggestive Umgebung, in einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand geraten waren, in dem sich Geschichte und Vorstellung vermischten?

Das Erbe einer beunruhigenden Begegnung

Ungeachtet der wissenschaftlichen Kontroversen wurde An Adventure ein Bestseller, eine Geschichte, die bis heute Leser fesselt. Dass die beiden Frauen auch in anderen Lebensbereichen für Unruhe sorgten, zeigt sich in den späteren Entwicklungen: Eleanor Jourdains Amtszeit als Rektorin endete in Spannungen und Skandalen. Ihre strenge Führungspolitik stieß auf Widerstand, und die Universität begann, sich gegen sie zu stellen. 1924, kurz vor ihrer erwarteten Entlassung, erlitt sie einen Herzinfarkt und verstarb. Moberly überlebte ihre Freundin um mehr als ein Jahrzehnt, doch das Gespenst von Versailles schien beide nie ganz loszulassen.

Heute sind ihre Porträts in den ehrwürdigen Hallen von St. Hugh’s zu finden, eine stille Erinnerung an zwei Frauen, die akademische Barrieren überwanden – und möglicherweise auch die Grenzen der Zeit.

Der Fall von Moberly und Jourdain ist nicht einzigartig. Zwei Paare reisten 1979 durch eine historische französische Landschaft auf dem Weg nach Spanien. Als es immer dunkler wurde, beschlossen sie, sich einen Platz in der Nähe von Montelimar zu suchen. Sie entschieden sich für einen kleinen Umweg abseits der großen Autobahnen in der Tiefe des Landes, da alle Motels in der Umgebung der Stadt bereits ausgebucht waren. Bald gerieten sie auf eine alte Straße mit Kopfsteinpflaster und handgezeichneter Werbung für einen Zirkus auf beiden Seiten. Sie näherten sich einem Hotel, das eher einem Gasthaus ähnelte, und beschlossen, dort einzuchecken. Sie stellten jedoch bald fest, dass das Hotel in der Vergangenheit stecken geblieben zu sein schien. Es fehlte an modernen Annehmlichkeiten wie Aufzügen und Telefonen. Die Zimmertüren hatten statt der üblichen Schlösser nur hölzerne Riegel.

Die Laken auf der Bettdecke waren aus Kattun, einem billigen Stoff, der seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet wurde, und auf den Betten gab es keine Kissen, sondern Nackenrollen. Die Sanitäranlagen bestanden aus antiken Holzspülkästen und -rohren. Aber noch veralteter waren die Fenster, die nur dicke Holzläden, aber kein Glas hatten. Das Paar blieb trotz der Merkwürdigkeiten des Hotels über Nacht, weil es zu erschöpft von der Reise war, um sich anderswo eine Unterkunft zu suchen. Ihre bizarre Tortur war jedoch noch lange nicht zu Ende. Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück hinuntergingen, bemerkten sie drei seltsame Menschen, die dort aßen: eine Frau in einem langen, altmodischen Kleid mit Knöpfstiefeln und einer großen, mit Juwelen besetzten Handtasche, die gerade von einem Ball zu kommen schien, und zwei französische Offiziere in der Kleidung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Das war schon unerwartet genug, aber als sie zur Kasse gingen, erlebten sie einen noch größeren Schock: Die Rechnung betrug weniger als ein Zehntel dessen, was sie erwartet hatten. Obwohl sie das Hotel für seltsam hielten, hatten sie eine gute Zeit und beschlossen, auf dem Rückweg von Spanien wieder dort zu übernachten. Das einzige Problem war, dass sie es nicht mehr finden konnten. Das Hotel war zwar nicht mehr da, aber die gepflasterte Straße und die alten Zirkusschilder existierten. Das Gasthaus aber war wie vom Erdboden verschluckt. Noch merkwürdiger war, dass bei der Entwicklung ihrer Urlaubsfotos die Aufnahmen, die sie im Hotel gemacht hatten, verschwunden waren. Es gab keine leeren Stellen auf den Negativen, obwohl die Bilder eigentlich in der Mitte der Rolle hätten sein müssen. Es hatte den Anschein, als seien die Fotos nie aufgenommen worden und als hätte das Hotel mit paranormalen Kräften an der Kamera herumgepfuscht. Der Ehemann unterzog sich 1985 sogar einer Hypnose, um zu sehen, ob er Erinnerungen zurückgewinnen könnte und tatsächlich war seine Erinnerung so klar wie sein Gewissen.

In Wirklichkeit gibt es hunderte, wenn nicht tausende solcher Erlebnisse, und mit unserem heutigen Wissen über Quantentheorie sind sie immer besser zu erklären. Dennoch wird es wohl noch eine ganze Weile dauern, bis wir unsere Sinne an die tatsächliche Wirklichkeit angepasst haben.

Veröffentlicht von

M.E. P.

Redakteur im Phantastikon. Übersetzer, Herausgeber und Verfasser dunkler Texte.

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