Das Haus als Wunde: Gewalt, Verdrängung und architektonischer Horror in Barbarian

Zach Creggers Barbarian ist auf den ersten Blick ein effektiver Schockfilm mit plötzlichen Brüchen, grotesken Übertreibungen und einer monströsen Figur, die direkt aus den Kellerräumen des Genres stammt. Doch unter der Oberfläche des Exploitation-Horrors vollzieht sich eine bemerkenswert präzise Reflexion über Raum, Erinnerung und Gewalt – über das, was sich nicht zeigt, aber strukturell anwesend bleibt. Der Horror dieses Films ist architektonisch aufgebaut, historisch und psychologisch gleichermaßen. Das Haus, in dem fast der gesamte Film verortet ist, wird nicht bloß zum Schauplatz, sondern zur Metapher einer Kultur des Wegschiebens – und zu einer Wunde, die nicht heilen darf, weil man sich lieber einredet, sie existiere nicht.

(c) Boulder Light Pictures

Schon in der ersten Begegnung zwischen Tess und Keith inszeniert Cregger das Motiv der Ungewissheit als grundlegende Realitätserfahrung. Das doppelt vermietete Airbnb fungiert einerseits als triviale Ausgangskonstellation, aber wichtiger noch als Störung des Vertrauens in das, was als „geordnet“ gilt. Die Angst vor dem Fremden ist zunächst vollkommen rational: Tess begegnet einem Mann in einem leeren Viertel Detroits, im strömenden Regen, in einem Haus, das zu groß, zu dunkel, zu unübersichtlich ist. Der Film folgt zunächst den eingeübten Regeln des Thrillers: Ist Keith eine Gefahr? Ist er ein Trick? Ist er ein Spiel der Erwartung? Doch Cregger unterläuft diese Spannung radikal, indem er sie auflöst – und zerstört. Keith ist harmlos, freundlich, kultiviert. Die eigentliche Gewalt lauert nicht im Offensichtlichen, sondern im Fundament des Hauses selbst.

Damit verschiebt der Film sein Zentrum vom zwischenmenschlichen Misstrauen zur strukturellen Bedrohung. Der eigentliche Horror beginnt nicht mit dem Unbekannten, sondern mit dem Verdrängten. Der Kellerraum wirkt, als sei er aus einem anderen Film – trocken, sauber, ritualisiert, mit der Videokamera, dem Bett, dem Eimer. Hier offenbart Barbarian sein eigentliches Thema: Es geht nicht um das Monster, sondern um das System, das es hervorgebracht hat. Um den Raum, in dem Gewalt organisiert, archiviert und zur Gewohnheit gemacht wird. Die unterirdischen Gänge, die sich in absurdem Maße ausdehnen, sind nicht etwa Logikfehler der Dramaturgie, sondern ihr Schlüssel: Sie visualisieren das Ausmaß einer Vergangenheit, die man nicht sehen wollte. Detroit wird als Nekropole ausgestellt, als eine Stadt mit Gräbern, die niemand öffnet, obwohl man auf ihnen lebt.

Der große erzählerische Bruch, der mit dem Auftritt Justin Longs erfolgt, nimmt eine strategische Entlarvungsperspektive ein. Plötzlich wird der Raum neu kodiert. Was zuvor als Gefahrenzone erschien, ist nun Anlageobjekt. Quadratmeter zählen ihm mehr als die Schreie, die er hört. Longs Figur verkörpert den systemischen Pragmatismus einer Kultur, die alles in Besitz transformiert – selbst Orte des Grauens. Der Horror gewinnt an Schärfe: Das Haus wird zur Allegorie des Kapitalismus, der selbst Verbrechen „umwidmet“, solange der Marktwert steigt. Die Kamera begleitet ihn also nicht durch seine erwartbare Angst, sondern durch Kalkulation. Wo Tess zögert, misst er aus. Wo sie flieht, rechnet er mit Gewinn.

Und dann tritt „die Mutter“ auf – die groteske, monströse Figur, die leicht zur Karikatur hätte verkommen können. Doch gerade in ihrer Überzeichnung liegt ihre Bedeutung. Sie ist kein übersinnliches Monster aus dem Jenseits, sondern eines aus der Vergangenheit – eine pathologische Konsequenz jahrzehntelanger Gewalt, Einsperrung, Zucht. Cregger unterläuft hier das Prinzip der Dämonisierung, indem er Empathie erzeugt, ohne zu sentimental zu werden. Diese Figur ist nicht böse. Sie ist deformierte Fürsorge. Verzerrte Mutterschaft. Eine Kreatur, die nicht vernichten will, sondern festhalten. Das ist vielleicht das Bitterste am Film: Das Grauen wurzelt nicht in Hass, sondern in Liebe, die unter unmenschlichen Bedingungen pervertiert wurde.

Formal arbeitet Barbarian konsequent gegen das Kontrollbedürfnis des Zuschauers. Die plötzlichen Tonwechsel, die absurden Gewaltspitzen, die beinahe slapstickhafte Brutalität einzelner Szenen irritieren, weil sie das Gefühl verweigern, „verstanden“ zu haben, was diese Geschichte eigentlich ist. Der Film dümpelt nicht in einer wie auch immer gearteten Genre-Sicherheit. Er sabotiert den Wunsch nach Einordnung. Wie das Haus selbst hat er keine klare Architektur – und genau das ist seine Wahrheit. Er ist fragmentiert, wie Erinnerung fragmentiert ist.

Am Ende ist Barbarian weniger ein Film über Überleben als über das Unmögliche des Verlassens. Niemand kann diesem Ort „einfach entkommen“, weil man Gewalt nicht verlässt wie einen Raum. Sie haftet. Sie prägt. Sie vererbt sich. Detroit ist dabei ein Symbol: ein Landstrich kultureller Amnesie, in dem Häuser stehen, die voll sind mit Gespenstern, aber niemand hört sie schreien, solange der Marktwert stimmt.

Barbarian ist roh, laut, überzogen – aber er ist ehrlich in seiner Überforderung. Er zeigt nicht „das Böse“, sondern die Räume, in denen es gedeiht. Und er zeigt, dass die eigentliche Perversion nicht im Monströsen liegt, sondern im Geschäftssinn, der sagt: Man kann alles renovieren. Auch die Hölle.


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MP

Übersetzer, Autor und Redakteur im Phantastikon. Host im Podcast.

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