Suspiria

Dario Argentos Suspiria

Über 40 Jahre alt glauben viele Cineasten, dass das Original ein heiliges Kunstwerk ist, dem man nicht das Wasser reichen kann. Die satten Farben, die höhlenartigen Sets, der haarsträubende Soundtrack und der erschreckende Ton des Films machen ihn zum Zentrum eines wahrhaftigen Kults. Für mich ist SUSPIRIA ohnehin einer der besten Filme aller Zeiten.

Suspiria
©Gloria

Drehbuchautor und Regisseur Dario Argento hat, um es gelinde auszudrücken, eine ungewöhnlich entsetzliche Lebenseinstellung, und die kraftvollsten Momente seines Films lassen einen über eine Operation am offenen Herzen nachdenken.

Erstens ist der visuelle Charakter des Films unglaublich. Die lebendigen Farben sind weit entfernt von den üblichen dunklen und düsteren Szenen, die wir aus vielen Horrorfilmen gewohnt sind. Jedes Set ist üppig und hell ausgeleuchtet, aber die verwendeten Farben sind meist beunruhigende Schattierungen der Grundfarben – tiefe Rottöne, dunkles Gelb und sattes Blau.

Da nur Primärfarben enthalten sind, überwältigt diese fette Palette die Sinne. Die Verwendung von Sekundärfarben würde ein Gefühl der Ausgeglichenheit erzeugen, da auf uns aber nur die Farben Rot, Blau, Gelb, Schwarz und Weiß einwirken, fühlen wir uns überwältigt. Das ist ein subtiler Weg, um eine Reaktion im Publikum zu erzeugen, und er ist äußerst effektiv.

Die Szenen, die in diesem Farbschema aufgenommen wurden, befinden sich normalerweise in engen Gängen oder geschlossenen Räumen. Infolgedessen fühlt sich jeder Raum, jede Szene an, als würden sich die Wände um den Betrachter hinweg zuziehen. Wenn hellere Farbtöne verwendet werden, sind die Räume offen gehalten, aber mit der Kamera aus der Ferne eingefangen. Das Gezeigte erscheint dann klein und unbedeutend und deutet Verzweiflung in einem Raum an, der normalerweise hell und ruhig erscheint.

Die Architektur ist atemberaubend und traumähnlich konzipiert. Muster und Akzente werden großzügig verwendet, um eine Szene lebendig erscheinen zu lassen, selbst wenn die Kamera nicht bewegt wird.

Was aber wäre ein genialer Film ohne die entsprechende Musik?

Goblins hartnäckiger Soundtrack reizt mit körnigem, kaum hörbarem Flüstern, das über eine repetitive, einfache Melodie gelegt wird. Der Effekt macht schier wahnsinnig und erzeugt Spannungen, wie es viele moderne Filmemacher nicht hinbekommen.

Als Susy Banyon (in der unantastbaren Performance von Jessica Harper) die Schule auf dem Höhepunkt des Films erkundet, ist die Musik permanent vorhanden. Sie ist unnachgiebig. Manchmal ist weniger mehr, aber in Suspiria straft Argento diese Regel Lügen, er fügt mehr und mehr hinzu, bis man unter dem Druck erstickt.

Der Duktus des Films selbst ist der einer verträumten Verwirrung. Da einige der Schauspieler Englisch, andere Italienisch oder Deutsch sprachen, wurden alle Sätze auf Englisch überspielt. In der synchronisierten Fassung spielt das zwar keine Rolle, wenn man sich den Film jedoch mit Originalton ansieht – und sich der Sprachbarriere nicht bewusst ist – fühlt man sich, als würde man ein bisschen verrückt bei dem Versuch herauszufinden, warum einige der Lippen der SchauspielerInnen nicht mit dem Dialog übereinstimmen, andere aber schon. Durch die Synchro ist man das bei uns, wie gesagt, ohnehin gewöhnt.

In Suspiria ist die junge Susy in einem Rätsel gefangen und rührt in ihren Erinnerungen, um das Puzzle zusammenzufügen. Als sie in diese spezielle Tanzschule kommt, sieht sie sich einer äußerst fremden Umgebung ausgesetzt. Das Publikum versteht ihren Kampf, muss gleichzeitig aber daran arbeiten, die aufgezeigte Situation selbst zu verstehen.

Die Spannung kriecht durch den Film, während Schüler, deren Mitgefühl füreinander zu wünschen übrig lässt, auf extreme und gewalttätige Weise getötet werden. Diese Morde wandern auf einen Höhepunkt zu, der förmlich über den ganzen Bildschirm explodiert. Noch durch die Schlusscredits hinweg hören wir die sterbenden Schreie derer, die in der Schule gefangen sind. Der Horror bleibt bis zum Ende bestehen – es gibt kein Entkommen, bis der Film wirklich vorbei ist.

Suspiria beweist, dass der Horror nicht nur durch Kettensägen, dunkle Räume und Folterpornos interessant ist. Er ist ein fein gestricktes Kunstwerk. Alle Elemente des Films vereinen sich zu einem unvergleichlichen Klassiker, der noch 40 Jahre danach Bestand hat.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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