Daniel Weber: Die unerwartete Zeugin

Der zweite Band der „Phillipsdorf-Reihe“ von Daniel Weber wartet zunächst mit einer angenehmen stilistischen Überraschung auf, dass der Kern des Romans die Untersuchung eines äußerst skurrilen Mordes nachzeichnet. Ohne viel Federlesens beginnt das Abenteuer mit dem Interview eines Geistes, der weiß, was wirklich geschehen ist mit Christoph Biber, der nach dem bestialischen Mord an einer jungen Frau in einer Klinik für geistesgestörte Verbrecher selbst tot aufgefunden wird – erwürgt von seiner eigenen Hand. Der Geist – eine Dame mit dem Namen Leichtfried, meldet sich bei Stefan Hanns, weil ihr Gerechtigkeitssinn sie dazu treibt. Sie weiß zu berichten, dass Biber unschuldig ist. Und tatsächlich wissen wir es am Ende auch, was wir aber im Laufe des Romans erfahren, ist völlig unglaublich. Nun, im Grunde unglaublich, aber schauen Sie sich um, liebe Leser, liebe Leserinnen! Schauen Sie sich um und werden Sie sich gewahr, wo wir uns befinden! In Phillipsdorf, im Bezirk des Wahnsinns!
Im Laufe der Untersuchungen, die Stefan Hanns mit seinem besten Freund Raphael Kurzhaus führt (der ihm plötzlich ebenfalls wie ein Enigma erscheint aufgrund seiner schon im ersten Band „Die zweifelhafte Erbschaft“ überraschenden Qualitäten als Geisterjäger), erfahren wir die unausweichlich auf ein entsetzliches Ende zusteuernde Geschichte des Studenten, der im Alter von 20 Jahren nach Phillipsdorf kam und zum Spielball von Mächten wurde, die er zu keiner Zeit begreifen konnte.
Daniel überspringt Szenen, die andere Autoren wahrscheinlich in die Länge gezogen hätten, um die ganze Geschichte aufzublähen, die aber die Geschwindigkeit der Erzählung bremsen würden. Natürlich ist das eine Diskussion, die jeder Autor immer wieder mit sich selbst ausmacht, aber denken wir an die Welt des seriellen Erzählens, wie es in Comics üblich ist. Zwischen zwei Szenen (also in diesem Fall zwischen zwei Panels), existiert die Erzählwelt weiter und der Leser/die Leserin führt die Geschichte im Hintergrund selbst aus. Das bedeutet allerdings nicht, dass uns etwas in Phillipsdorf entgeht oder alles nur fragmentarisch erzählt würde. Ganz im Gegenteil ist hier die Einschränkung des Epischen eine Wohltat, weil sie vom Autor wohldurchdacht ist und sich alles auf das Wesentliche fokussiert.
Der stilistische Schwung, der diesem zweiten Band innewohnt, vertieft unsere Begegnung mit den skurrilen Charakteren und führt uns auf eine neue Ebene. Sie werden genau in der richtigen Dosis weitergesponnen und neue Figuren ins Rampenlicht gerückt. Wie bereits in „Die zweifelhafte Erbschaft“ ist David Grau im gesamten Werk eine Schlüsselfigur, bleibt aber mit seinen Machenschaften immer noch vage genug, als würden wir etwas nur durch die Augenwinkel beobachten. Er scheint überall seine Finger im Spiel zu haben, tritt aber nie in definitiver Form auf. Er ist einerseits freundlich, strahlt andererseits aber eine Kälte aus, hinter der mehr zu stecken scheint. Wir ahnen etwas, aber wir wissen es noch nicht genau, was es ist. Einerseits erinnert die Figur an den Grafen von Saint Germaine, scheint etwas von altem Adel, und genau wie der Graf eine Art Unsterblichkeit (zumindest Alterslosigkeit) an sich zu haben, die Rätsel aufgibt.
Andererseits ist er durchaus dämonisch, von Geheimnissen umhüllt und auf seinem Anwesen von zwei Dienern umgeben, deren Namen Bände sprechen: Ratte und Wurm. Seltsame Namen, nicht wahr? Aber vielleicht nicht so seltsam wie die Tatsache, dass er der vermeintliche Bruder der „Alten“ ist, einer durchaus mächtigen Hexe, deren dunkle Machenschaften überhaupt erst zum vorliegenden Geschehen führen. Ihr Tod wird nicht geschildert. Das ist eine der oben genannten Herangehensweisen des Autors und erscheint deshalb zunächst unspektakulär, nachdem sie doch bereits im ersten Band als äußerst Geheimnisvoll und gefährlich (wie ihr Bruder auch) dargestellt wird. Aber ihre Hinterlassenschaft ist alles andere als seicht. Sie wird sich – untot wie sie fortan ist – am Ende des Romans einreihen in die Gruppe bizarrer Mitbewohner des Erzählers Stefan Hanns, der das geerbte Haus seines Großonkels nun fast schon wie eine geisterhafte WG führt, die (ähnlich wie der Vergleich Graus mit Saint Germain) durchaus etwas von „What We Do In The Shadows“ hat, auch wenn sich diese Horror-Mockumentary um Vampire dreht.
Es ist speziell die Atmosphäre und der schwarze Humor, die alles unterlegen und die in dieser speziellen Geschichte die Tragik nicht melodramatisch erscheinen lassen. Denn dass es diese Tragik gibt, ist unzweifelhaft und beginnt bereits bei der Halb-Ghoula Helena, die sich wünscht, ein ganz normales pubertierendes Mädchen zu sein, was ihr auch gelingt (einmal abgesehen von ihren Essgewohnheiten, die recht viehisch sind). Es geht weiter über die titelgebende „unerwartete Zeugin“ – eines der Opfer der „Alten“, die rein aus Langeweile (und schon zu Lebzeiten) ihre Nase (und jetzt Geisternase) in die Angelegenheiten anderer Leute steckt. Einerseits wird hier zwar dieser typische Archetyp einer biederen Nachbarschaft parodiert, andererseits aber die erfrischende Idee dargeboten, einen Geist als – fast schon – Kronzeugen auftreten zu lassen. Am Ende werden Stefan und Raphael ihr in einer wunderschönen Szene Erlösung bieten, denn eines ist der Autor sicher nicht: ein Berserker. Daniel Weber ist vielmehr interessiert an den Konfliktpunkten, und es gibt eben Dinge, die sich nicht zwischen den Zeilen erledigen lassen, sondern die es wert sind, erzählt zu werden.
Fast schon am Rande bekommen wir immer wieder Hinweise auf eine Welt, die von H.P. Lovecraft erschaffen wurde. Es fallen Namen wie Arkham oder Nyarlathotep, aber doch ganz anders wie das Heer an Autoren des Lovecraftschen Horror diese Begrifflichkeiten nutzt. Daniel Weber verbindet seinen Bezirk des Wahnsinns zwar mit der Welt des Mythos, aber er macht das auf seine Weise, indem er nicht etwa seine Erzählwelt Lovecraft unterwirft, sondern ganz im Gegenteil Lovecrafts Fieberträume Teil von Phillipsdorf sein lässt.






