Nachtkurier

Dämonen im Land der Dämmerung

Tatsächlich sind keine Dämonen im Land, das es nicht gibt. Von ihnen erzählt Astrid Lindgren nicht. Sie erzählt von einem einsamen Jungen, von einem winzigen fliegenden Herrn, von toten kleinen Menschen und greisen Unterirdischen mit roten Augen. Land der Dämmerung ist eine Kurzgeschichte, und sie gehört in ein Buch, das für mich geschrieben wurde. Nicht wirklich. Aber gefühlt. Gehofftt. Für wahr befunden als Kind. Und heute? Irgendwie immer noch.

Tatsächlich heißt das Buch einfach nur: Astrid Lindgren erzählt. Vom geheimnisvollen, uralten Tomte Tummetott, der wacht und hilft, wenn alle schlafen. Vom einsamen Lahm-Peter, der sich etwas Lebendiges wünscht. Von jenen, die man nicht bei Namen nennen darf. Und eben vom Land der Dämmerung. Ich denke, dass genau diese Geschichte die richtige für mich gewesen ist. Obgleich sie vermutlich nicht dafür gedacht war, mir jene Angst vertraut zu machen, die meine Phantasie seit jeher wortlos nickend begleitet hat, ohne mich selbst irgendwann so derart fassungslos verstummen zu lassen.

In diesem einen Land, das es nicht geben soll, – ein Unsinn, der für mich damals schon nur beschwichtigende Lüge war – , leben keine behaarten Trolle mit gelben Zähnen, keine Monster mit schuppiger Haut und schwarzen Krallen. Keine bösen Wesen. Und trotzdem behaupte ich, dass in Ländern wie diesem meine Dämonen ihre Heimat haben. Natürlich kamen sie erst später zu mir, tauchten einer nach dem anderen auf und durften bleiben, weil sie mich nicht wirklich störten. Alle kamen sie später, viele Jahre nach der Zeit, in der ich auf dem Gehweg nach glitzernden Steinen Ausschau hielt. Ich war klein und dachte mir, wenn ich welche finde, darf ich sie auch behalten und reich werden. Und ich wusste, dass irgendwo im Rinnstein, zwischen den Grashalmen im Park und in Mauerritzen genau die Steine waren, die es angeblich gar nicht geben sollte. Genauso, wie ich wusste, dass Pusteblumen für Kinder gebastelt werden, dass im Bretterverschlag mit den gelagerten Kartoffeln jemand wohnt und wartet und dass im Himmel gebacken wird, wenn er sich rötet.

Ich wusste auch von denen, die unter Gullideckeln leben, und ich kniete mich hin und sah hinein und wartete darauf, ein Flüstern zu hören. Oder eine Hand zu sehen, die sich nach oben streckt, damit ich nach ihr greife. Das hätte ich nicht getan, ich wäre davon gerannt und hätte mir vorgestellt, mir das nur eingebildet zu haben. Das wäre unehrlich gewesen, aber von dieser gewissen Unschuld gesegnet, die mich schon lange nur gequält und müde, wahrlich müde lächeln lässt.

Vielleicht gehört meine Erinnerung an das Land der Dämmerung für die gut Gesättigten unter uns, die alles an Horror gekostet haben, um ihre Sehnsucht nach dem Unaussprechlichen zu stillen, ganz einfach nicht hierher. Weil diese Geschichte so harmlos scheint: Der kranke Göran, der auch erzählt, wird von einem kleinen Mann mit dem hübschen Namen Lilienstengel, der in der Abenddämmerung an seine Fensterscheibe klopft, auf eine Reise mitgenommen, die so verwunschen abenteuerlich ist, dass sie nur erfunden sein kann. Ist sie selbstverständlich auch. Ich denke, dass sie geschrieben wurde, um glücklich zu machen. Am Ende heißt es:

“ Jetzt kommt er jeden Tag und holt mich ab, und wir fliegen ins Land der Dämmerung. Es ist ein so wunderbares Land. Es ist so herrlich dort zu sein. Es spielt gar keine Rolle, dass man ein krankes Bein hat. Denn im Land der Dämmerung kann man ja fliegen.“

Fliegen und Verstorbene treffen. Wie all die Personen, die irgendwann mal auf dem Seerosenhof gelebt haben. Wie Christina, die ein historisches Kleid trägt und mit Göran tanzt, obgleich der gar nicht laufen kann, oder das Mädchen, das mit Göran, der seit geraumer Zeit schon nicht mehr zur Schule gehen kann, in einer Klasse gewesen war. Alle tot. Und Göran selbst? Der gehörte für mich einwandfrei zu den Todgeweihten, sozusagen kurz vor der Schwelle stehend. Sein Ausflug in der Dämmerung galt für mich als Vorgeschmack auf das Jenseits mit sprechenden Bären, einem König, merkwürdigen Kreaturen in einem „Loch tief unten“ und einem…

„…Gesang, wie er in der Stadt Stockholm wohl noch nie zu hören gewesen ist. Wenn man den Gesang hörte, hatte man das Gefühl, als liefe einem noch viel mehr Feuer und Eis den Rücken entlang.“

Kinderlieder hatte ich dabei nicht im Ohr. Keine Posaunenklänge. Es war dieses Etwas, das brannte und frösteln ließ. Das malte ich mir aus. Dieses Gefühl konnte nicht wirklich nur gut sein, aber es klang nach einem ganz besonderen Prickeln auf der Haut, das mir gefallen wollte und mich gleichsam erschreckte. Würde ich das mögen, wenn ich tot wäre? Oder ansatzweise tot wie Göran?

Ich fragte meinen Großvater, was mit mir in einem Sarg passiert, und er sprach von Knochen und fressenden Würmern. Nach einem Fahrradunfall lag ich im Krankenhaus, hörte nachts die Kirchturmglocken von St. Peter und bildete mir ein, beim zwölften Schlag zu sterben. Ich stellte mir vor, in der Leichenhalle auf dem Nordfriedhof bei Morgengrauen in einem kurzen Hemd aus Spitze aufzuwachen und barfuß nach Hause zu laufen, um meine Eltern zu erschrecken. Ich war acht, und ich hatte Lindgren gelesen. Hätte meine Mutter geahnt…aber ob es anders geworden wäre? Es war richtig.

Wer jetzt stirnrunzelnd, vielleicht sogar empört einwirft, ich hätte Astrid Lindgren komplett missverstanden, der bleibe weiterhin irritiert von mir und beständig bei seinem Gutdenken, sie hätte einfach nur Seltsamkeiten geschrieben. Friedlich, fröhlich, manchmal frech. Aber prinzipiell unbedenklich. Sollte wohl so sein. Ist es auch so? Letztgenanntes mag zutreffen bei Kindern, aus denen nüchterne, kurzsichtige Erwachsene werden, die unbekümmert das Licht ausschalten können.

Mir haben ihre Geschichten wie die von den Waisenkindern, die durch die Pforte gehen, von Malin, die einer Linde ihre klingende Seele schenkt, von Stina Maria, die von Schattenarmen umschlungen wird und im Dunkelwasser schlafen soll, und eben wie diese von jenem Dämmerland, das es gar nicht gibt und in dem so überraschend alles möglich ist, eine Eintrittskarte in die Welt verschafft, in der ich schreiben darf, was meine eigenen Bilder mir mal zögernd, mal zornig, stets hitzköpfig, stets wohlwollend mit tiefer Stimme verraten.

Lindgrens Erzählungen sind mit mir gemeinsam alt geworden, und ich hüte sie, weil sie mir gehören. Natürlich teile ich sie. Einige lieben sie, ohne sich dabei etwas zu denken. Andere haben sie gekannt und längst vergessen. Manch einen haben sie vielleicht dazu gebracht, Märchen zu erfinden. Manch anderer schenkt sie seinen Kindern und bewirkt etwas. Irgend etwas. Wie bei mir. Das Wundersame war es, das meinen Kopf nicht mehr verlassen hat. Es hat den einen echten Horror mit Seele, den ich meinen nenne, weil ich ihn zähmen und hetzen darf, wie einen alten, hungrigen Kriegskameraden eingeladen. Er blieb gern, ich gebe ihm Sicherheit. Er schenkt mir Freundschaft. Wie gut für uns beide.

Karin Reddemann

Karin Reddemann

Karin Reddemann, Jahrgang 1963, Studium Germanistik/Romanistik, Journalistin und Autorin; von 2015 - 2018 Redakteurin im Phantastikon-Magazin; Mitarbeiterin beim Online-Magazinn Fantasyguide; Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien, Buch Gottes kalte Gabe, Dr. Ronald-Henss-Verlag Saarbrücken (auch e-books).

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