Man könnte aus Tolkiens Kosmos sehr viele Heldenfiguren aufführen, die sich in die populäre Kultur eingeschrieben haben (und ich bin mir sicher, der ein oder andere wird auch noch auftauchen), allerdings stellt sich die Frage nach jener Figur, die auf einer Liste wie dieser unentbehrlich ist. Gandalf zum Beispiel ist nicht der Prototyp der weisen, väterlichen Zauberer des Fantasy-Genres, er hat seine Quelle in Merlin. Mit Bilbo allerdings schuf Tolkien den Vertreter einer Rasse, die völlig originell zu nennen ist.
Bilbo Beutlin, der Protagonist in Der kleine Hobbit, gehört einer Rasse von bartlosen Kreaturen an, die etwa halb so groß sind wie Menschen und haarige Füße haben. Er lebt in einer unbestimmten Zeit (im Buch dem Dritten Zeitalter), die gleichzeitig uralt und doch der viktorianischen Zeit sehr ähnlich ist mit ihren gemütlichen häuslichen Routinen. Wie die meisten Hobbits liebt Bilbo den Komfort von Haus und Herd: Er liebt gutes, einfaches Essen im Überfluss, und er liebt seine Pfeife und seine gut ausgestattete Hobbithöhle.
Obwohl alle Versuche, das Auenland als Tolkiens Erinnerungen an seine Kindheit in Sarehole bei Birmingham festzulegen, scheiterten, bildete dieser Landstrich nach eigenem Bekunden die Grundlage für Bilbos grüne Heimat. Oft wird das Auenland als idealisierte Form eines vorindustriellen (und damit in den Augen von Tolkien vorzeitlichen) England angesehen. Tolkien selbst erzählte seinen Verlegern, dass seine Darstellung mehr oder weniger einem Warwickshire-Dorf aus der Zeit von Queen Victorias Herrschaft entspricht.
Das Buch beginnt damit, dass Bilbo eines Morgens vor seinem Haus eine Pfeife raucht; kurz darauf serviert er dreizehn Zwergen „High Tea“, darunter Kaffee, Kuchen, Kekse, Marmelade, Torte und Pasteten. Erinnerungen an diese Art von einfacher englischer Küche folgen Bilbo während den gesamten Schwierigkeiten seiner Reise, wo er oft Hunger leidet. Diese Erinnerungen repräsentieren das, was Heimat für ihn bedeutet. Bilbo ist durchaus auch anspruchsvoll: Er mag das Chaos, das die Zwerge in seinem Haus verursachen, nicht, und obwohl er von Gandalf zu einem dramatischen Abenteuer eingeladen wird, kehrt er in Kapitel 2 beinahe nach Hause zurück, weil er seine Taschentücher und seine Pfeife vergessen hat.
Bilbo ist aufgerufen, mehr zu tun, als er für sich für möglich hält. Er reist nicht gerne und bevorzugt die Sicherheit seiner Hobbithöhle, aber er hat eben auch von der Seite seiner Mutter, den Tuks, eine Spur von Abenteuerlust geerbt. Die abenteuerlustige Tuk-Seite und seine bequeme Beutlin-Seite stehen während des Großteils der Geschichte miteinander in Konflikt. In der ersten Hälfte des Buches ist er oft unglücklich und ziemlich feige. Er bekommt einen Anfall, als er sich gezwungen sieht, sich Gandalf und den Zwergen anzuschließen, und später muss er von Dori getragen werden, als sie den Goblins entkommen. Angesichts der Schwierigkeiten hat er oft Angst und träumt ständig von Speck und Eiern und wünscht sich zurück nach Hause. In Kapitel 2 wird er dabei erwischt, wie er versucht, die Trolle zu bestehlen.
Und doch zeigt Bilbo bald Anzeichen von Einfallsreichtum. Er nimmt den Schlüssel zur geheimen Höhle der Trolle und versorgt sich so mit einem Schwert aus deren Lager. Obwohl Gandalf ihn und die Zwerge in Kapitel 4 vor den Goblins retten muss, findet Bilbo im nächsten Kapitel den Ring, der ihn unsichtbar macht, und beweist im Austausch von Rätseln seine Konkurrenzfähigkeit mit Gollum. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Bilbo sich dem Impuls widersetzt, Gollum in Kapitel 5 zu töten, weil er denkt, dass dies unfair wäre: Gollum ist unbewaffnet, während Bilbo unsichtbar und bewaffnet ist. Bilbo wird daher nicht nur als klug, sondern auch als ethisch dargestellt. Dies spiegelt sich in der wachsenden Achtung der Zwerge vor ihm in Kapitel 6 wider.
In Kapitel 8, als Bilbo sein Schwert benutzt, um sich aus dem Spinnennetz zu befreien, wird beschrieben, dass er sich selbst gegenüber ein anders Gefühl bekommen hat, dass sein Selbstbewusstsein wächst. An dieser Stelle gibt er seinem Schwert einen Namen, wie es viele legendäre Helden getan haben, und es ist klar, dass in ihm die Qualitäten von Heldentum und Führungsgeist heranreifen. In Kapitel 9 zeigt er Tapferkeit und Intelligenz bei der Ausarbeitung des Plans für die Flucht mit den Zwergen nach Esgaroth; Gandalf ist gegangen und ihr Schicksal liegt in Bilbos Händen. Schließlich ist es in Kapitel 12 nur Bilbo, der in die Drachenhöhle von Smaug hinabsteigt – nachdem er zuerst entdeckt hat, wie man mit Thorins Schlüssel die Tür zum Einsamen Berg öffnet – und einen Becher und den Arkenstein aus dem Hort stiehlt. Er zeigt extreme Tapferkeit, weil er Smaug wirklich nicht reizen will, aber er geht trotzdem. Auch entdeckt er Smaugs verletzliche Stelle, wo er schließlich von Bards Pfeil tödlich getroffen wird.
Nach der Schlacht der fünf Armeen kehrt Bilbo jedoch zu seiner Hobbithöhle zurück und zu einem Leben, das demjenigen, das er verlassen hat, sehr ähnlich ist – mit einigen wichtigen Unterschieden. Er hat mehr Geld, nachdem er einen Teil von Smaugs Hort erhalten hat, und sein Leben nach seiner Rückkehr gestaltet sich etwas exzentrischer als vorher, es ist ein viel mehr von den Tuks geprägtes Leben.
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