Poirot

100 Jahre Hercule Poirot – Das fehlende Glied in der Kette

Mit zwei Milliarden Büchern, die in über 100 Sprachen übersetzt wurden, ist Agatha Christie die unangefochtene Königin des Kriminalromans, die weltweit meistverkaufte Romanautorin und die wohl erfolgreichste weibliche Bühnenautorin aller Zeiten. Im Oktober 2020 jährte sich die Veröffentlichung ihres ersten Romans “Das fehlende Glied in der Kette” zum 100ten Mal, und damit auch das Erscheinen des legendären Hercule Poirot, des kleine Mannes mit dem tadellos gepflegten Schnurrbart, der mit Hilfe seiner  „kleinen grauen Zellen“ jedes Verbrechen lösen konnte. 

Obwohl er möglicherweise nach Sherlock Holmes der zweitberühmteste Detektiv der britischen Kultur ist, ist Poirot gar kein Brite, sondern ein Flüchtling. Er kam als Teil einer Gruppe von Belgiern, die durch den Ersten Weltkrieg vertrieben worden waren, nach England, doch seine Wiege liegt in Brüssel. Indem sie über diesen pensionierten belgischen Polizisten schrieb, der Fälle in ganz Großbritannien und auf der ganzen Welt löste, konnte Christie die Komplexität des Englischen und seine Beziehung zu Kontinentaleuropa erforschen (und sich manchmal auch darüber lustig machen).

Agatha Christie war Mitte 20, als sie 1916 mit dem scheinbar unmöglichen Unterfangen begann, ihren ersten Kriminalroman zu verfassen. Zu dieser Zeit war Christie mit einem Offizier des britischen Royal Flying Corps verheiratet und arbeitete in einem Krankenhaus in Torquay in England, zunächst als Krankenschwester und später in der Apotheke, wo sie Medikamente zubereitete und bereitstellte. Während dieser Tätigkeit entwickelte sie eine Faszination für Gifte, die sie in den nächsten sechs Jahrzehnte nicht mehr loslassen sollte. In vielen ihrer bekanntesten Romanen wird das ihr bevorzugtes Mittel sein, jemanden über den Jordan zu schicken, und natürlich war es das auch in ihrem allerersten Buch “Das fehlende Glied in der Kette”, ein früher Beitrag dessen, was heute als das Goldene Zeitalter der Detektivgeschichten bezeichnet wird, eine Periode, die sich in etwa von 1920 bis in die 40er Jahre hinein erstreckte.

Das Buch wirft uns in die Gesellschaft von Captain Arthur Hastings, einem Soldaten, der von der Westfront des Ersten Weltkriegs nach Hause kehrt und die Einladung angenommen hat, einen Teil seines Krankenurlaubs in Styles Court zu verbringen, dem Landsitz seines Jugendkollegen John Cavendish in Essex.

Seine Ruhe dort wird jedoch bald durch die Ermordung von Cavendishs älterer, verwitweter und wohlhabender Stiefmutter Emily Inglethorp gestört. Hastings sucht Hilfe bei Hercule Poirot, einem pensionierten, aber einst berühmten belgischen Polizeibeamten, den Hastings vor dem Krieg kennen gelernt hatte und der seit kurzem als Emigrant in einem Haus in der Nähe von Styles lebt.

Fans von Sherlock Holmes werden die Figuren von Hercule Poirot und seinem Freund Captain Hastings ziemlich vertraut erscheinen. Ein ausgezeichneter Detektiv, der allen anderen auf diesem Gebiet um Längen voraus ist und mit einem Ex-Soldaten zusammenarbeitet. Christie lässt sogar den Namen Sherlock Holmes sehr früh im Buch fallen, so dass man leicht erkennen kann, woher die Inspiration kommt. Abgesehen davon ist diese Serie jedoch kein billiger Abklatsch von Sherlock Holmes.

Wie jeder besonnene Leser zu schätzen wissen wird, wurde er natürlich in einer Zeit geschrieben, in der andere gesellschaftliche Normen galten. Wer also dazu neigt, Geschichte durch eine heutige Linse zu betrachten, sollte sich selbst einen Gefallen tun und etwas anderes lesen. Leider muss das immer wieder erwähnt werden, weil solche Leser dazu neigen, ihre Denkfehler lautstark unters Volk zu schreien. Wer aber etwas über diesen Zeitabschnitt herausfinden will, der wird hier gut bedient, denn eines ist gewiss: keiner der heute verfassten historischen Romane kann jenen Autoren, die in dieser Zeit lebten, das Wasser reichen. Hier haben wir echte Momentaufnahmen darüber, wie das Leben damals wirklich war, wie Verbrechen begangen wurden und wie sich das Gesetz dazu verhielt.

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Poirots Verdacht, dass die Verstorbene mit Strychnin, “einem der tödlichsten Gifte, die der Menschheit bekannt sind”, vergiftet wurde, bestätigt sich, obwohl die genaue Dosierung dieses bitteren Neurotoxins unbekannt ist. Ebenso wenig wie die Identität des Mörders. Die Verdächtigen aber sind zahlreich, unter ihnen John Cavendish und sein jüngerer Bruder Lawrence, deren Anspruch auf das Vermögen ihrer Stiefmutter in Zweifel steht; Emilys bedeutend jüngerer Ehemann Alfred Inglethorp wird als “ein mieser kleiner Schurke” beschrieben; Evelyn Howard, die von der verstorbenen Großmutter angeheuerte Lebensgefährtin, die eine einzigartige Feindseligkeit gegenüber Alfred zeigt; Mary Cavendish, deren Liebe zu Ehemann John zwischen seinen Tändeleien und ihren eigenen eintönigen Flirts stark gelitten hat; und Cynthia Murdoch, Emilys Schützling, die zufällig in einer Apotheke arbeitet. Es liegt an Poirot, mit Unterstützung von Hastings und Scotland Yard-Inspektor James Japp, Motive und Möglichkeiten abzuwägen und schließlich herauszufinden, wer aus diesem illustren Kreis für die vorzeitige Entsendung von Frau Inglethorp verantwortlich war.

Obwohl Christies Prosa hier recht sparsam ist, sind ihre Bemühungen um Irreführung und falsche Fährten meisterhaft eingesetzt und ihr Plot aufwendig gestaltet. Die Idee, Strychnin als Waffe einzusetzen, stammt natürlich aus den Krankenhauserfahrungen der Autorin. Tatsächlich ist ohne ein fachmännisches Wissen um Gifte die Lösung des Rätsels nicht zu finden.

Oberflächlich betrachtet ähneln Christies Romane einem nostalgischen Rückzug ins Pastorale und ins englische Herrenhaus. Dank der Betonung geschlossener Räume und detaillierter Grundrisse herrschaftlicher Gebäude lassen sie sich als eine mögliche Hinwendung nach innen lesen. Doch dieser Anschein trügt.

Die Öffnung von Grenzen, sowohl buchstäblich als auch intellektuell, prägt Christies England. Es war ihr Verständnis für die Arbeit europäischer Denker, das ihrem Detektiv einen Vorsprung verschafft. Wo ein englischer Detektiv, wie Sherlock Holmes, nach äußeren Beweisstücken sucht, die analysiert werden können, löst Poirot den Fall, indem er die verborgenen Implikationen des Verhaltens der Menschen erkennt – einschließlich seiner eigenen. Poirots freudianischer Fokus auf die Psychologie der Verdächtigen ermöglicht es ihm zu erkennen, dass einfache Fehler und Versprecher tiefere Bedeutungen verbergen können. In „Das fehlende Glied in der Kette“ wird ein entscheidender Hinweis enthüllt, als Poirot die Bedeutung seines eigenen, fast unbewussten Instinkts, aufzuräumen, erkennt.

In Christies Welt reicht der typisch englische gesunde Menschenverstand von Polizisten nicht aus, um das Rätsel zu lösen. Stattdessen bringt eine Prise kontinentale Theorie Licht ins Dunkel, was unter der Oberfläche liegt.

Ein weiteres Markenzeichen von Poirot ist sein gelegentliches Ringen um das richtige englische Wort oder die richtige Redewendung. In The Mysterious Affair at Styles zitiert er sogar Hamlet falsch. Doch es wäre ein Fehler, diese Momente als einfache Fehler zu lesen. Stattdessen spielt Poirot wissentlich mit der Trope des „komischen Ausländers“, indem er Schwierigkeiten mit der Sprache nutzt, um Verdächtige zu entwaffnen und Ängste vor Verdächtigungen zu zerstreuen (wie konnte eine so komische Figur ein so großer Detektiv sein?). In den berühmten Szenen, in denen Poirot die Wahrheit erklärt, wird sein Englisch deutlich fließender. Poirot verkörpert dabei den Außenseiter, der perfekt in der Lage ist, englische Täuschungen zu durchschauen.

Klein-England

Der Erfolg des „lustigen Ausländers“ bei ahnungslosen Engländern spielt in Christies größere Erkundung des Englischen in ihre Büchern hinein.

Poirot ist ein begeisterter Verehrer Englands. In Der Mord an Roger Ackroyd kommentiert er, England sei „wunderschön, oder etwa nicht?“. Doch diese Begeisterung wird nicht immer erwidert. Ein Running Gag der Poirot-Romane und -Adaptionen ist, dass er oft als Franzose verwechselt wird. Bei Ackroyd wird er so beschrieben, dass er „genau wie ein komischer Franzose in einer Revue“ aussieht. Aber in einem Genre, das viel Liebe zum Detail verlangt, geht der Witz hier auf Kosten eines besonders engstirnigen Typs von Engländern, die den Unterschied zwischen Franzosen und Belgiern nicht erkennen können.

Ebenso fällt, wie die Literaturwissenschaftlerin Alison Light anmerkt, Poirots Popularität mit der Ausweitung des Reisens zusammen, da die Engländer sich zunehmend als Touristen im Ausland sahen. Mehrere von Poirots berühmtesten Fällen ereignen sich auf Verkehrsmitteln und an exotischen Orten, wie der Tod auf dem Nil. Doch auch wenn sich die Engländer in diesen Geschichten im Ausland aufhalten, spielen die Klassenverhältnisse aus der Heimat immer noch eine Rolle, wo auch immer sie sich befinden. England folgt ihnen, und diese nach innen gerichtete Engländerei sitzt tief.

Auch wenn Christie sich über England und die englischen Verhaltensweisen lustig gemacht haben mag, gelang es ihr, die Herzen der britischen Leser mit ihrem kleinen, smarten Belgier zu erobern. Poirot wurde von den Lesern so geliebt, dass Christie zwischen 1921 und 1975 33 Romane, zwei Theaterstücke und mehr als 50 Kurzgeschichten über ihn schrieb.

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MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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