Malte S. Sembten

Interview mit Malte S. Sembten

Malte S. Sembten ist vieles: Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber, Illustrator.  Hardy Kettlitz nennt ihn in seinem Vorwort zu Maskenhandlungen “ein Klasse für sich”. Für das PHANTASTIKON war er vor allem eins: ein intelligenter Gesprächspartner. Wir freuen uns, das Interview mit ihm in voller Länge präsentieren zu können.

MP: Wie fühlt man sich, wenn eine Persönlichkeit wie T. S. Joshi schreibt, dass man einer der wenigen lebenden deutschsprachigen Verfasser unheimlicher Literatur sei, deren Erzählungen wiederholtes Lesen lohnen? Das ist ja eigentlich ein Ritterschlag.

MSS: Ich weiß, worauf du anspielst. Aber Joshi hat die aus drei dicken Bänden bestehende Enzyklopädie Supernatural Literature of the World ja nur mitherausgegeben. Verfasst wurde sie von einem Kollektiv aus siebenundsechzig Fachleuten. Joshi kann meines Wissens auch gar kein Deutsch. Die beiden Einträge, in denen ich vorkomme, stammen von den deutschen Phantastik-Experten Marco Frenschkowski und Robert N. Bloch.

MP: Was im Umkehrschluss bedeutet, man hat dich noch nicht ins Englische übersetzt. Obwohl du gerade bei unseren Fachleuten als beinahe konkurrenzloser Einzelfall giltst.

MSS: Was die Konkurrenzsituation angeht: die hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Viele Fachleute, die sich mit Phantastik befassen, haben vor fünfzehn Jahren die deutsche „Szene“ in Augenschein genommen und sich dann desinteressiert abgewandt. Die wissen oft gar nicht, viele viele gute deutschsprachige Autoren – und Verlage – es in diesem Bereich inzwischen gibt.
Zum Thema Übersetzungen: bisher wurden zwei Geschichten von mir übersetzt, eine ins Kroatische, die andere ins Tschechische – das war’s. Aber selbst wenn eines meiner Werke in englischer Sprache vorläge, würde das noch längst nicht bedeuten, dass Joshi oder sonst eine maßgebliche Persönlichkeit davon Kenntnis nähme.

MP: Warum tut sich das ehemalige Land der Dichter und Denker so schwer, überhaupt den Anschluss an amerikanische oder englische Schriftsteller zu halten? Gibt es da ein nennenswertes Defizit, das die Autoren in Deutschland vielleicht daran hindert, qualitativ Wertvolles zu schreiben?

MSS: Die Angelsachsen haben den Vorteil, in der gegenwärtigen Weltsprache zu schreiben. Außerdem sind sie nicht so verkopft wie wir Deutschen. Sie glauben nicht, dass gute Literatur entweder tiefgründig philosophisch oder unterhaltsam sein kann, aber nie beides zusammen, und dass nur die philosophische Tiefe, aber nie der Unterhaltungswert über die Güte einer Erzählung oder eines Romans entscheidet. Außerdem hat der Geniekult der deutschen Romantiker dazu geführt, dass Schriftstellerei bei uns lange Zeit nicht als Handwerk galt, das man erlernen oder einüben kann. Das hat sich aber geändert. Es gibt jetzt auch bei uns viele Schreibwerkstätten und Schriftstellerschulen, etwa die „Bastei Lübbe Academy“. Das macht sich bemerkbar. Gerade im Thriller- und Phantastikbereich haben wir eine Vielzahl fähiger Autoren vorzuweisen.

MP: Ist noch etwas anderes schuld an der Misere?

MSS: Während der Weimarer Republik war der deutschsprachige Raum kulturell in einigen Bereichen weltführend. In der anschließenden Nazi-Ära wurde u.a. auch die deutsche Kultur geköpft. Das war die Zäsur. Zudem hat Deutschland nach 1945 die Unbeschwertheit und Leichtigkeit gefehlt, die die Angelsachsen sich bewahren konnten. Stattdessen war bei uns vielfach trübseliges Wundenlecken angesagt, triste Nabelschau.
Tatsache ist aber auch: Die Angelsachsen haben in ihrer eigenen Sprache so viele gute Autoren – da herrscht halt ein begrenzter Bedarf am Literaturimport.

MP: Du hast unter anderem einen dieser Autoren übersetzt: Thomas Ligotti. Ganz allgemein, was hältst du von ihm sozusagen als Lichtgestalt der Post-Lovecraft-Ära?
Ist er mit seiner „philosophisch-nihilistischen“ Haltung nicht schon eher ein Europäer?

MSS: Der Festa-Verlag bringt 2015 Ligottis Grimscribe auf Deutsch heraus. Weil Ligotti die Geschichten des Bandes für die Neuausgabe bearbeitet hat, bat Frank Festa die Übersetzer seiner früheren Ligotti-Bände, ihre alten Übersetzungen mit den neuen Storyfassungen abzugleichen. Ich habe die beiden Geschichten, mit denen ich als Übersetzer in dem Buch vertreten bin, gleich neu übersetzt – immerhin sind meine früheren Übersetzungen schon siebzehn Jahre alt. Dabei ist mir wieder bewusst geworden, wie herausragend Ligotti als Autor ist: gedanklich, stilistisch, von der Originalität her. Ich bewundere ihn. Aber es ist eine distanzierte Bewunderung. Ein Ligotti-Enthusiast bin ich nicht. Während ich problemlos drei Bände mit Kurzgeschichten von, sagen wir, Henry Slesar hintereinender lesen kann, sind Ligotti-Erzählungen so eigenwillig und kryptisch, dass Ligotti für mich nur in Einzeldosen genießbar ist.

Ist Ligotti ein in die Neue Welt verschlagener Europäer? Das halte ich für eine müßige Frage. Lovecraft fühlte sich als Brite aus der Zeit King Georges III. Poes Genie wurde in Frankreich entdeckt. Dennoch handelt es sich nun mal um Amerikaner. Auch Bradbury ist ein Sohn Amerikas. Anscheinend ist Amerika ein mindestens so guter Nährboden für solche Talente wie unser Kontinent. Ohnehin sind die USA ein von europäischer Einwanderung geprägtes Land, bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Auch Poe, Lovecraft, Bradbury und – dem Namen nach zu urteilen – Ligotti haben europäische Vorfahren. Was die „philosophisch-nihilistische Haltung“ angeht, so erachte ich sie weniger für europäisch als vielmehr für ein Merkmal unserer Zeit. Nur ist sie in der phantastischen Literatur, obwohl ja alle Lovecraft anbeten, nicht so weit verbreitet wie in anderen Literaturgattungen.

MP: Beeinflusst dich das Übersetzen ganz allgemein oder bleibt die Melodie deiner Arbeiten zu jeder Zeit deine eigene?

MSS: Übersetzen ist natürlich immer eine gute Übung in Stil und schriftlichem Ausdruck. Und Clark Ashton Smith, für dessen im Festa Verlag erscheinende deutschsprachige Werkausgabe ich als Hauptübersetzer tätig bin, hat meine Vorliebe für einen nicht nur lesbaren, sondern auch vorlesbaren Stil, für eine „gut klingende“, teilweise lautmalerische Sprache gewiss noch verstärkt. Außerdem wäre meine bisher einzige Fantasy-Story, „Drachenfutter“ (in: Frank G. Gerigk & Petra Hartmann, Hg., Drachen! Drachen!, Blitz Verlag) ohne meine Beschäftigung mit CAS nicht entstanden.

MP: Zu welchem Buch sollten die Leser greifen, um die Essenz von Malte S. Sembten in den Händen zu halten?

MSS: Naheliegenderweise zu der von Hardy Kettlitz im Golkonda Verlag herausgegebenen Kollektion mit meinen seiner fachmännischen Meinung nach besten Geschichten der vergangenen zwanzig Jahre, vorzüglich illustriert von Fabian Fröhlich.

MP: Im Interview, das Michael Schmidt 2012 (Vincent-Preis-Blog) mit dir führte, wurdest du bereits indirekt nach einem Roman gefragt, denn du – so hoffen vielleicht viele – einmal schreiben wirst. Gibt es dazu – auch wenn nur im Hinterkopf – irgendwelche Ideen?

MSS: Diese Frage wird mir oft und auch ganz direkt gestellt. Und ich hatte schon viele Ideen für Romane und habe auch schon manchen Roman angefangen. Mein Problem dabei: ich gehöre zu den Autoren, die mit einer Grundidee und einem brauchbaren ersten Satz oder Absatz im Kopf einfach drauflos schreiben. Wie ich vor kurzem erfahren habe, bin ich somit ein „Discovery Writer“, also ein Entdeckungsreisender, der zu Beginn selbst nicht genau weiß, in welche Gefilde die Geschichte ihn während des Schreibens führen wird. Bei Kurzgeschichten bekomme ich das hin, aber bei Romanen bisher nicht. Einen Roman müsste ich nach Exposee schreiben, um bis zum Ende zu gelangen, und das Verfassen von Exposees liegt mir nicht. Außerdem bin ich bisher immer sehr verkrampft an ein Romanprojekt herangegangen, verkrampft vor Ehrgeiz, bei so viel Arbeit auch das absolut Beste vorzulegen, das mir je gelungen ist, ein Werk, das alle meine früheren literarischen Schöpfungen in den Schatten stellt. So kommt man natürlich nicht weit.
Immerhin habe ich auch mit der „Discovery“-Methode zuletzt immer häufiger längere Werke zustande gebracht, z. B. die beiden Novellen für die E-Buch-Reihe Horror Factory von Bastei Lübbe oder den ebenso langen Beitrag für die Bastei Lübbe-Anthologie Angel Island. Außerdem hilft mir das Schreiben von Serienromanen für den Zaubermond Verlag bei der Annäherung an die Produktion eines umfänglichen eigenen Romans. Zwar schreibe ich für Zaubermond nach einem vorgegebenen Exposee, das ich im Detail oftmals abweichend, im Ganzen aber getreu befolge. Was ich dabei jedoch lerne, ist, ehrgeizig an ein längeres Werk heranzugehen, aber nicht verkrampft ehrgeizig, und frisch drauflos fabulierend meinen Einfällen zu folgen. Das funktioniert sehr gut, wie ich finde, und ich bin auch durchaus stolz auf meine unter Pseudonym nach Fremdexposee verfassten Serienromane. Ein „richtiger“, eigenständiger Roman ist zwar ein anderes Kaliber, aber ohne „Entkrampfung“ werde ich keinen hinbekommen.
Wovon wird mein Romandebüt handeln, sofern es jemals das Licht der Welt erblickt? Nur so viel: die Geschichte wird in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Edinburgh spielen.

MP: So weit ich weiß, hast du einen Coco-Zamis-Roman für Zaubermond verfasst. Warst du jemals ein Fan von Dämonenkiller und Co.?

MSS: Nein, mit dem Heftromangenre bin ich erst als Autor nachhaltig in Berührung gekommen. Aber ich erinnere mich noch, wie ich mit etwa vierzehn Jahren krank im Bett lag. Ich bat meine Mutter, mir vom Einkauf Stokers Dracula als Lesestoff mitzubringen. Natürlich konnte die arme Frau im Büchergestell des Supermarkts keinen Dracula finden, sodass sie in ihrer Not zu einem grellen Dämonenkiller-Taschenbuch aus dem Pabel Verlag griff. Als sie mir das überreichte, war ich furchtbar enttäuscht – statt des Klassikers bietet Mutti mir billigen Trash an! Aber ich begann dann doch zu lesen. Und mir ist noch sehr gewärtig, wie ich mich vor lauter Grusel und Spannung regelrecht in mein verschwitztes Bettzeug einknäulte. Der betreffende Band tauchte noch viele Jahre lang immer wieder in meiner Büchersammlung auf, bis er dann irgendwann verschwand. Den Titel weiß ich nicht mehr, nur, dass eine Motorbootfahrt in der Geschichte vorkommt. Jahrzehnte danach habe ich unter dem Pseudonym Rüdiger Silber selbst einen Roman für die Coco Zamis-Serie des Zaubermond Verlags verfasst. Coco Zamis ist ja ein Ableger des Dämonenkillers, dessen Abenteuer unter dem Serientitel Dorian Hunter seit vielen Jahren bei Zaubermond fortgeführt werden. Seit knapp drei Jahren schreibe ich unter dem besagten Pseudonym regelmäßig für Das Haus Zamis, wie die Coco Zamis-Serie heute heißt, und auch für Dorian Hunter. Mein nächster DHZ-Roman erscheint im März 2015 in Band 41 der Serie.

MP: Hast du jemals über eine Graphic-Novel nachgedacht?

MSS: Da gab es den einen oder anderen Ansatz auf fannischer Basis, aber keiner davon ist jemals weit gediehen. Ich mag Bild und Text auch lieber getrennt voneinander. Ich schätze gut gezeichnete Comicgeschichten sehr, aber meistens genieße ich die Bilder ohne den Text zu lesen. Einer Story hinwieder folge ich lieber in rein literarischer Form. So kommt es auch, dass ich von Comickünstlern, die ich mag, lieber Bildbände, Skizzenbücher oder klassisch illustrierte Geschichten zur Hand nehme. Mein liebstes Beispiel: die Marvel-Ausgabe von Mary Shelleys Frankenstein, illustriert von Bernie Wrightson.

MP: Das war ein in der Tat ein phantastisches Interview, für das ich mich bedanken möchte, vor allem für die Zeit, die du investiert hast, mir so ausführlich zu antworten. Zum Schluss möchte ich noch auf etwas zu sprechen kommen, dass mich persönlich interessiert. Es trägt den schrecklichen Namen „Schreibprozess“. Gibt es da ein bestimmtes Ritual, bevor/während oder nach dem Schreiben? Eine bestimmte Uhrzeit, literweise Kaffee etc.?

MSS: Ich gehöre nicht zum Typus des „Kaffeehausliteraten“, der sich bevorzugt an betriebsamen öffentlichen Orten in die Arbeit versenkt. Ich bin eher unkonzentriert und ablenkbar. Daher fabuliere ich am liebsten ungestört am heimischen Schreibtisch. Im Gegensatz zu zahlreichen Kollegen höre ich auch keine Musik im Hintergrund, denn auch das erschwert mir die Konzentration. Ich würde gerne früh anfangen mit der Arbeit, aber das bekomme ich nur selten hin. Stimulierende Substanzen benötige ich nicht.

MP: Wer ist der Erstleser deiner Geschichten?

MSS: Der jeweilige Herausgeber oder der Lektor. Wobei ich nach Möglichkeit zusätzlich „private“ Lektoren einsetze. Der fremde Blick, der die eigene „Betriebsblindheit“ ausgleicht, ist mir sehr wichtig.

(Das Interview wurde im Februar 2015 per E-Mail geführt.)

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht.

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